Blau wie Schokolade
»Ihr Weicheier.«
Dann ging er und knallte die Tür hinter sich zu. Wir grinsten uns an. Charlie, Riley, Camellia, Ramon, noch ein paar andere Leute und ich. Ich kannte ihre Meinung zu den unterschiedlichen Verhütungsmethoden nicht. Vielleicht wäre das mal ein interessantes Thema für die Mittagspause.
»Erzähl noch mal die Geschichte mit dem Kondom, Camellia«, sagte Riley. »Die war lustig.«
Ich musste mir unbedingt noch ein paar Stöckelschuhe mit Leopardenprint holen.
In Jogginghose und T-Shirt schlenderte ich durch die Bäume zum Fluss hinter Rosvitas Haus. Ich ging direkt in das kalte Wasser des Flusses, setzte mich auf einen Stein, senkte den Kopf und weinte. Ich habe festgestellt, dass meine Trauer wellenweise kommt. Wenn es nicht anders geht, schlucke ich sie herunter und verdränge sie, aber irgendwann muss sie heraus, und dann muss ich weinen.
Eines habe ich über Trauer gelernt: Man kann ihr auf gar keinen Fall entkommen. Sie zwingt einen auf die Knie, drückt einem das Gesicht in den Sand, und dann liegt man da. Man kann erst wieder aufstehen, wenn alle Tränen geweint sind, also fängt man besser schnell damit an.
Später am Abend stellte ich mich fast eine Stunde lang unter die heiße Dusche. Dann gönnte ich mir mehrere Gläser in meinem Zimmer, zusammengerollt wie zu einer Kugel, und schlief in meinen Klamotten ein. Als ich um vier Uhr morgens erwachte, hatte ich die Halskette mit dem Delphin von meinem Vater in der Hand.
Mir war schlecht vom Trinken, ich beugte mich über die Toilette. Erstmals seit vielen Tagen hatte ich einen Kater. Dabei hatte ich mich so gut gehalten.
Ich konnte die Stimme meiner Mutter hören, die mich anschrie, mich anflehte, mit dem Trinken aufzuhören. Ich sah ein großes Kreuz vor mir.
Dann schoss die Stimme in meinen Kopf, wie ein Blitz aus heiterem Himmel: »Ich schlag alle meine Schranktüren zu!«
Ich ließ den Kopf auf den Toilettensitz sinken.
»Steh auf und stell dir vor, du seist ein Vogel, Becky«, befahl Emmaline, erhob sich von ihrem schwarzen Sitzsack in der Mitte des Kreises und flatterte mit ihren weißen Armen.
Soman schien Beckys Situation zu quälen. Bradon stöhnte. Ich wollte gerade protestieren, als Becky sprach.
»Ich glaube, ich mache mich nicht gut als Vogel.« Sie schob ihr blondes strohiges Haar aus dem blassen Gesicht. Ich entdeckte winzige Schnittwunden an ihren Handgelenken. Und an ihren Oberarmen. Jeder einzelne Schnitt brach mir das Herz. »Ich weiß nicht, wie man fliegt.«
»Flieg, Becky!«, rief Emmaline. Sie reckte ihren Hals wie ein Vogel, hob die anmutigen weißen Hände über den Kopf und bewegte sie schnell. Becky fuhr zusammen. Wenn Emmaline doch nicht immer so schreien würde! Es machte der armen Becky solche Angst. »Flieg! Du musst von der Versuchung der Drogen fortfliegen! Flieg schnell, flieg hoch! Flieg voller Mut!«
»Hier?«, fragte Becky. »Jetzt? Ich soll jetzt fliegen?«
»Ja! Verlass dein Nest aus Drogen, Selbsthass und Kriminalität und flieg davon! Nimm all deinen Mut zusammen und flatter durch den Raum, steig auf und lass dich fallen, zisch an uns vorbei! Flieg! Flieg!«
»Sei doch ein Pfau«, sagte Soman und drückte seine breiten Schultern nach hinten, als bereite er sich auf das Fliegen vor. »Ein Pfau ist ein Vogel, aber er stolziert nur herum.« Ich wusste, dass Soman Becky helfen wollte.
»Falsch, falsch, falsch!«, widersprach Emmaline. »Ein Pfau kann nicht wie ein Vogel fliegen. Becky muss fliegen. Sie muss mit ihrem Herzen frei und weit fliegen, muss sich nach einem neuen Leben sehnen, nach der Heiterkeit, die sie und nur sie allein sich bisher versagt hat. Sie muss sich an ein sinnliches Leben klammern, ein Leben voller Rot-, Orange- und Gelbtöne statt ihrer schwarzgrauen Düsternis. Niemand wird heute diesen Raum verlassen, Becky, bevor wir dich fliegen gesehen haben.«
Becky sah sich um. »Das ist keine gute Idee.«
»Was?«, kreischte Emmaline. Sie klang wie ein gekränktes Huhn. Becky fuhr zusammen. Bradon schüttelte seinen kahlen Kopf. Soman streckte die Hand nach Becky aus. Armes Mädchen. »Was? In diesem Kurs wird sich nicht widersetzt. Das hast du schon oft genug getan!«
»Nur weil«, Beckys atemlose Stimme fing sich, »ich find’s eigentlich ganz nett hier, bloß dein Geschrei nicht. Ich schlag gerne gegen die Sandsäcke. Ich mag das Basteln. Es ist warm hier. Und ich mag die anderen drei.« Sie nickte uns zu. »Die sind nett. Die sagen nichts Gemeines. Sie
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