Blaue Wunder
muss, und wo das Schlimmste, worüber man sich bei einem Mann aufregt, das Bierchen zu viel am Samstagabend ist. Tja, all das hätte ich haben können.
Ich habe mich in den vergangenen zwei Jahren oft gefragt, ob Gregor der Richtige gewesen wäre. Wann im Leben ist der Zeitpunkt, wo man sich arrangieren sollte? Ist es dämlich, sich mit dreißig von einem Mann zu trennen, der zumindest schon mal nicht der Falsche ist? Ist es albern, immer noch auf mehr zu hoffen? Auf das große Glück, auf den Liebesblitzschlag? Es ist ja im Grunde genommen wie mit der Wohnungssuche. Du musst dich ganz klar fragen: Was willst du haben, was kannst du zahlen, worauf würdest du verzichten, worauf in keinem Fall? Wenn du starrsinnig an deinen Ansprüchen festhältst - lichtdurchfluteter Altbau, Küche mit eingebautem Dampfgarer, Kamin und Garten -, kann es dir natürlich passieren, dass du mit Ende dreißig noch bei deinen Eltern im ausgebauten Dachstübchen wohnst. Und dann wird dir erst nach Jahren klar, dass die dritte Wohnung, die du besichtigt hast, die beste gewesen ist. Aber du, du hast ja immer noch mit etwas Besserem gerechnet.
Und in der Tat hatte ich mit etwas Besserem gerechnet. Ich hatte bei Gregor immer das Gefühl, ich kann mehr. Mehr fühlen, mehr begehren, mehr streiten, mehr leiden, mehr lieben. Meine Gefühle waren nicht ausgelastet. Ich habe so viele Paare gesehen, die sich zusammengetan haben, weil sie die Hoffnung auf etwas Großartiges aufgegeben haben. Okay, die waren dann gute Eltern, oder sie konnten gut zusammen in Urlaub fahren oder gut über Völkerkunde reden, oder sie konnten sich gut gegenseitig in Ruhe lassen. Das ist überhaupt das Allerschärfste: wenn du froh bist, dass dein Mann genauso gerne ohne dich ist wie du ohne ihn. Was ist der Vorteil daran? Dass ihr beide nicht ständig vor Augen geführt bekommt, dass ihr eine lauwarme, halbherzige, feige Entscheidung getroffen habt?
Ich kam mir mutig vor, als ich Gregor verließ. Warum ein Herz nur zu sechzig Prozent benutzen? Ich hatte auf jemanden gehofft, der keinen Zweifel mehr übrig lässt. Bei dem ich bleiben kann mit der Gewissheit, dass die Suche zu Ende ist. Ich finde, dass ich nie übertriebene Ansprüche hatte. Er musste weder bildschön sein noch schwerreich, er brauchte keinen Adelstitel und keinen Doktor. Alles, was ich wollte, war ein Mann, bei dem ich fühlte: «Du bist für mich der Richtige!»
Das Tragische ist, dass ich diesen Mann jetzt gefunden hatte.
Ich lege mich zurück ins Bett. Was soll ich auch sonst tun? Es ist Samstag, der 1. Mai, der Tag der Liebenden. Zum Glück hat mir Erdal, der Goldige, auf einem Tablett in der Küche eine Packung Aspirin, drei Tafeln Milka-Schokolade, vier Bounty und eine Dose Erdnüsse angerichtet. Darauf ein Zettel: «Elli, mein armes Häschen, ich habe heute leider Termine. Lass es dir nach Herzenslust schlecht gehen. Weißwein und Kühlbrille sind im Kühlschrank. Ab morgen werden wir Zukunftspläne schmieden. Gib nicht auf! Dein Erdal.»
Das ist süß. Aber Zukunftspläne war das falsche Stichwort. Es ist so schlimm, wenn du genau weißt, dass ab jetzt alles nur schlechter werden kann. Ich komme mir vor, als hätte ich «Wetten, dass.?» moderiert, «Macarena» gesungen oder «Das Parfüm» geschrieben: Das Größte in meinem Leben habe ich hinter mir. Ich greife nach meinem Tagebuch. Mal nachlesen, wie es war, als alles noch gut war.
17. APRIL
Zeit: drei Uhr nachts
Stimmung: dass ich das noch erleben darf!
Weitere Aussichten: Und wenn sie nicht
gestorben sind...
Liebes Tagebuch,
ich hasse Tagebücher! Ich finde, das sollten wir von Anfang an klarstellen. Ich habe noch nie eines besessen, und ich benutze dieses hier nur, weil meine beste Freundin für zwei Monate durch Indien reist und ich nichts von dem, was ich ihr später alles erzählen möchte, vergessen will. Und weil es ein Geschenk ist. Ein Geschenk von Martin G. Gülpen, dem Mann mit dem bescheuertsten Nachnamen und dem unglaublichsten Hintern, den ich je kennen gelernt habe. Wobei «kennen lernen» vielleicht nicht ganz das richtige Wort ist. Unsere Liebe begann gestern mit einem ungeheuren Adrenalinstoß der, nun ja, eher unerfreulichen Art. Was mittelbar mit dem Alterungsprozess zu tun hat, der derzeit auf meinem Kopf stattfindet.
Auf den 295 Kilometern zwischen Hiltrup und Hamburg hatte ich mir keine abschließende Meinung gebildet. Jetzt fuhr ich bereits auf der Brücke zwischen Binnen- und Außenalster,
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