Blaue Wunder
schämen. Das hat zu manch ungerechter Strafe in meinem Leben geführt. Klar, hätte ich als Geschichtslehrer auch denjenigen in Verdacht, den Schwamm geworfen zu haben, der ketchupfarben glühend auf den Boden starrt. Und derjenige war leider immer ich. Manchmal ärgere ich mich, in meinem Leben nicht viel mehr Verbotenes getan zu haben, wo ich doch sowieso ständig wegen irgendwas verdächtigt oder bestraft worden bin. Aber bedauerlicherweise habe ich keine kriminelle Energie. Erdal war also völlig klar, was los war, und er brauchte auch nur einmal pro forma ein bisschen nachzubohren, damit ich ihm sofort die ganze Geschichte begeistert und detailgetreu auftischte. Mir tat es gut, und Erdal ist ein hervorragender Zuhörer mit einem Faible fürs Romantische. Er unterbrach mich immer wieder mit Zwischenrufen wie: «Das muss Schicksal sein. Ich sage dir, da hat eine höhere Macht ihre Hände im Spiel!» Oder: «Nein, wieso kann mir so was nicht mal passieren?»
Bevor ich mich auf den Weg zu Martin machte, gab mir Erdal noch ein paar gut gemeinte Tipps zu meinem Erscheinungsbild: «Noch ein wenig Gloss auf die Lippen, das macht sie voller. Die Haare am Hinterkopf etwas auftoupieren, das macht das Gesicht schmaler.» Für seinen Hinweis «Ganz ehrlich unter Freunden: Zwei, drei Kilo weniger würden dir nicht schaden» war ich besonders dankbar. Lässt sich ja auch hervorragend eine Viertelstunde vor dem entscheidenden Date realisieren. Wenigstens macht sich Erdal nichts vor, was sein eigenes Körpergewicht angeht. Da sind echte Männer ja häufig merkwürdig und motzen über die dicken Schenkel ihrer Frauen, während sie selbst schon seit Jahren ihre Füße nicht mehr gesehen haben.
Ich ging also mit schmalem Gesicht und vollen Lippen zu meinem Date. «Wenn das Wetter so schön bleibt, können wir doch morgen auf meiner Dachterrasse ein Stück Kuchen essen», hatte Martin vorgeschlagen, als wir uns nach dem Beinahzusammenstoß einen Drink in einer Bar gegönnt hatten. Und natürlich hatte ich nur willenlos genickt. Ich war völlig ergriffen von der Tatsache, dass ich hier ganz offensichtlich dem Mann gegenübersaß, auf den ich schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Im Lift von Martins Haus rückte ich meine Brüste zurecht. Jetzt würde sich mein Leben verändern. Ich wusste es. Das ist jetzt elf Stunden her. Und ich hatte Recht. Ich liege gerade völlig betrunken und trotzdem seltsam klar auf einem geblümten Bettüberwurf, schreibe ein wenig in dieses Tagebuch und betrachte ab und zu die Decke. Die dreht sich. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass sich heute alles um mich dreht. Es ist drei Uhr nachts, aber Erdal ist noch nicht zu Hause. Schade, ich würde gerne jemandem von diesem ungeheuerlichen Gefühl erzählen. Diesem Gefühl, dass dein Herz Trampolin springt. Immer höher. Diesem
Gefühl, dass die Sonne scheint, obschon draußen Nacht ist. Diesem Gefühl, dass dieses potthässliche Bild zweier ringender nackter Männer eines der schönsten Gemälde ist, die du je gesehen hast. Dieses Gefühl, dass dein Leben nicht mehr lange genug dauern wird, um all das Glück, das du jetzt vor dir hast, darin unterzubringen.
In vier Stunden muss ich aufstehen. Morgen ist mein erster Arbeitstag. Licht aus. Augen zu. Dunkel wird es trotzdem nicht. Ein Feuerwerk hinter meinen Augenlidern. Ich bin einfach affenartig verliebt.
« Es ist allerhöchste
Zeit, etwas Sinnvolles zu tun.
Aber was?»
Das Bild an meiner Zimmerwand mit den zwei ringenden nackten Männern ist wirklich das Hässlichste, was ich je in meinem Leben gesehen habe. Ich klappe das Tagebuch zu. Ich muss eingenickt sein beim Lesen. Es ist schon früher Nachmittag, und alles, was ich heute getan habe, ist, anderthalb Tafeln Kinderschokolade zu essen, mich in der Vergangenheit und in Selbstmitleid zu suhlen.
Ich schaue durch das schmutzige Fenster auf die gegenüberliegenden Häuser. Der Straßenlärm dringt halb gedämpft zu mir hoch. Auch ich bin halb gedämpft.
Ich weiß, dass ich aufstehen sollte. Jeder weiß ganz genau, dass er eigentlich aufstehen sollte, wenn er vor Kummer lieber liegen bleiben würde.
Im Liegen wird nämlich alles nur noch schlimmer. Da widmet man sich völlig unabgelenkt seinen düsteren Gedanken und starrt an die Decke wie auf eine Leinwand, auf der die haarsträubendsten Filme laufen. Ich schaue mir an meiner Decke gerade den deutschen Horrorthriller «Stumpi knutscht meinen Freund auf der Dachterrasse»
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