Blaue Wunder
eingeschüchtert vom Anblick meiner neuen Heimatstadt und dem Feierabendverkehr, und fragte mich immer noch, ob ich mich schämen oder beglückwünschen sollte. Wenn eine Person zweiunddreißig ist und alles Wesentliche, was diese Person besitzt, in einen Mietwagen der günstigsten Kategorie passt: Würde man diese Person dann einen unbeschwerten Kosmopoliten nennen, der überall und nirgends zu Hause ist, der sich nicht mit Konsumgütern beschwert, sondern mit leichtem Gepäck von einer wichtigen Selbsterfahrung zur anderen schwebt? Oder würde man diese Person als gescheiterte Existenz bezeichnen, die es in drei Jahrzehnten nicht geschafft hat, sich Werte anzueignen, die zumindest einen Kleinbus füllen?
Allerdings musste man mir zugute halten, dass ich ja nicht mit all meinen Möbeln unterwegs war, sondern nur mit all meinen Lieblingsbüchern, Lieblingsklamotten, Lieblings-CDs, Lieblingscremes, einem Laptop, einem kleinen Scanner, einem Drucker, einer Kiste alter Fotos und Briefe, meiner Kamera und, grob geschätzt, dreißig Paar Schuhen. Ich hatte ein möbliertes Zimmer in der Hoheluftchaussee gemietet bei einem laut Mitwohnzentrale «ordentlichen, homosexuellen Mittdreißiger mit Tierhaarallergie, der eine weibliche Mitbewohnerin sucht, die weiß, dass man Toiletten mehrmals im Jahr putzen sollte».
Zwar traf das auf mein Persönlichkeitsprofil nicht hundertprozentig zu - ich putze ungern und bin nicht in der Lage, Ordnung zu halten -, aber ich war bereit, für dieses sagenhaft günstige Zimmer mit dieser wunderschön klingenden Adresse so zu tun, als hätte ich ein erotisches Verhältnis zu Meister Proper. Ich mailte ein paar Mal mit Erdal und konnte ihn davon überzeugen, es mit mir zu versuchen. «Letztendlich», hatte er in seiner letzten Mail geschrieben, «geht es mir darum, endlich mit jemandem zusammen zu wohnen, den man nicht gesondert dazu auffordern muss, im Sitzen zu pinkeln.»
Hoheluftchaussee, ich komme! Ach, das klang nach frischer Brise und Abenteuer. Ich hatte Angst. Und ich war stolz. Ich kannte hier niemanden, mutterseelenallein würde ich mich dem Dschungel der Großstadt stellen, mit meinem liebreizenden Wesen Kontakte knüpfen, mir eine neue Metropolen-Existenz aufbauen. Mein Blick fiel in den Rückspiegel. Und ich erstarrte. Ich sah nicht nur die Autos hinter mir, sondern auch meinen Haaransatz direkt vor mir. Ich wollte zunächst nicht glauben, was dort geschehen war. Ich drehte den Spiegel ganz in meine Richtung, um mir ein komplettes Bild der desaströsen Lage zu machen. Zugegeben, ich hatte schon mal ab und zu ein einzelnes graues Haar entdeckt. Ich hatte es mit mildem Lächeln betrachtet, wie ein goldenes Blatt am ansonsten grünen Baum, das von einem sehr, sehr fernen Herbst kündet - und es dann natürlich sofort eliminiert. Heute aber, ausgerechnet an dem Tag, an dem ich mein neues Leben beginnen wollte, sah ich auf einmal aus wie eine Birke im späten Oktober.
Quasi über Nacht hatten sich auf meinem Kopf mindestens ein Dutzend grauer Haare illegal zusammengerottet. Und natürlich da, wo sie jeder auf Anhieb sehen kann, direkt über der Stirn. Das war doch nicht zu fassen! Ich war nicht bereit, mir diesen viel versprechenden Abschnitt meines Daseins durch ein paar Millionen toter, farbloser Haarzellen ruinieren zu lassen. Ich versuchte, sowohl die Fahrbahn als auch meinen Haaransatz im Auge zu behalten und mit der linken Hand zu steuern, während ich mit der rechten zum Vernichtungsschlag ansetzte. Beim ersten Mal hatte ich auch gleich ein recht ansehnliches Büschel Haare ausgerissen. Ein graues war nicht darunter.
Ich warf einen langen, feindseligen Blick in den Spiegel - und bemerkte zu spät, dass ich gerade an einer roten Ampel vorbeigefahren war. Aus dem Augenwinkel sah ich einen dunklen Wagen von rechts auf mich zuschießen. Ich trat die Bremse durch und streckte mechanisch die rechte Hand aus, um meinen Drucker festzuhalten, der auf dem Beifahrersitz stand. Ich schlitterte auf die Kreuzung, der Drucker flog nach vorne, rammte mein Handgelenk und zertrümmerte meine Armbanduhr.
Siebzehn Uhr dreiundvierzig. Die beste Zeit meines Lebens! Ich habe die Uhr noch am selben Abend an die Wand meines neuen Zimmers gehängt, gleich nachdem ich von meiner Begegnung mit Martin G. Gülpen kam, dem Mann, dessen Auto nur fünf Zentimeter vor meiner Stoßstange zum Halten gekommen war. Tja, und das ist einen Tag her. Und seither schwebe ich elfenhaft durch die Gegend, summe hier eine
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