Blaue Wunder
unstillbaren Sexualtrieb sein, die sich wegen ihres abstoßenden Äußeren einen mittellosen, gut aussehenden Boy chartern musste. Nein, wir passen schon recht gut zusammen. Er ist nicht sehr viel größer als ich, vielleicht einen halben Kopf, und sieht, wie ich finde, auf eine gediegene Art gut aus. Er ist eher schmal, dahingehend also nicht mit mir zu vergleichen, und er hat ganz helle Haut mit Sommersprossen. Und das gefällt mir gut, weil ich ja auch immer so weiß-rötlich marmoriert daherkomme und Martin der erste Mann ist, wo ich im Bett nicht aussehe wie eine Made neben einer Kaffeebohne. - Oh, Moment, Kundschaft. Eine Frechheit, mich während der Arbeit zu stören.
13.15 UHR:
Bin voll aufgeregt, voll verschossen und, wie meistens, voll verunsichert. Martin hat mich gerade angerufen. Das an sich ist natürlich schon mal ein Grund für schlotternde Knie. Jetzt kenne ich ihn schon zehn Tage, und trotzdem klopft mir immer noch das Herz bis zum Hals, wenn ich seine Stimme höre. Vor Glück. Vor Angst. Will er absagen, sich trennen, mir sagen, dass er sich nun doch entschieden hat, das Supermodel mit dem Schwanenhals, dem CambridgeAbschluss und dem Doktortitel in Teilchenphysik zu heiraten?
Ich habe ja nicht studiert. Hat mich auch nie gestört. Ich war nie besonders gut in der Schule, und nach dem Abi habe ich sofort meine Ausbildung im Reisebüro meines Onkels gemacht. Ich war auch nie länger im Ausland, habe nicht in Abendkursen drei zusätzliche Fremdsprachen gelernt oder abends im Bett das Gesamtwerk von Thomas Mann durchgearbeitet. Die klassische Bildung ist nicht mein Lebensschwerpunkt, das muss ich zugeben. Ich hatte mich mehr auf meine emotionale Weiterbildung konzentriert, war zum Beispiel recht früh vertraut mit den Techniken des Zungenkusses und des Nackenkraulens. Jetzt, wo ich mit einem Betriebswirt zusammen bin, der zwei Semester in St. Gallen studiert hat, zweimal im Monat ins Theater geht und in seinem deckenhohen Bücherregal all die Schwarten stehen hat, die ich nie gelesen habe, von denen ich aber weiß, dass ich sie gelesen haben sollte - jetzt bereue ich es, dass ich mich im Deutschunterricht nicht mehr engagiert und Großteile meiner Adoleszenz knutschend im Kino verbracht habe.
Eigentlich wollte ich mit Martin heute Abend ins Kino gehen, aber jetzt hat er mich gefragt, ob ich Lust hätte, mit zu einer Vernissage zu kommen. «Einer was?»
«Gabo, eine sehr berühmte Fotografin, eröffnet heute ihre Ausstellung in der Galerie Camerawork. Unsere Firma zählt zu den Sponsoren der Galerie, und weil mein Vater verhindert ist, wäre es ganz gut, wenn ich mich da kurz blicken lasse. Interessierst du dich für Fotografie?» «Aber natürlich. Was soll ich anziehen?» «Ach, eher casual sexy würde ich sagen. Soll ich dich um halb neun abholen?» «Nein, lass mal, ich komme zu dir.»
18.12 UHR:
Bin jetzt zu Hause und habe die letzten Stunden damit verbracht, folgende Fragen zu klären: Was ist «casual sexy», und was muss man über zeitgenössische Fotografie wissen? Ich hatte ja nicht gelogen, als ich behauptete, ich interessiere mich für Fotografie - allerdings nur für meine. Ich schleppe meine kleine Digitalkamera eigentlich immer überall mit hin und habe gerade heute Morgen ein sehr gelungenes Foto von Sigrid gemacht, der schielenden Osterhäsin, die ganzjährig bei Erdal auf dem Küchentisch steht. Erdal hat einen ausgeprägten Hang, sich Dinge anzuschaffen, die sowohl entsetzlich kitschig als auch entsetzlich hässlich sind. Der Vorteil ist, dass diese Objekte meist recht günstig zu haben sind. Erdal hat mir erklärt, unter «casual sexy» verstehe jeder etwas anderes. Na toll. Aber er würde mir raten, Schwarz zu tragen, eventuell gespickt mit einem kleinen auffälligen Accessoire. Damit würde man in Hamburg nie was falsch machen. Wegen der noch zu vermittelnden Kenntnisse über zeitgenössische Fotografie hat Erdal unten in der Videothek Super- Nucki gefragt, weil der ja schließlich Fotograf ist. Aber Super-Nucki war der Ansicht, man könne Interesse für Fotografie nicht heucheln. Entweder man hätte einen Sinn dafür oder eben nicht. Und was ich im Übrigen davon halten würde, einfach zuzugeben, dass mich Fotokunst nicht die Bohne interessiere? Was ich davon halte? Nichts, Blödkopf! Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn man sich jemand anderem zuliebe ändern möchte? Ich möchte meine Essgewohnheiten ändern, meine Lesegewohnheiten, mein
Weitere Kostenlose Bücher