Blaue Wunder
Tag zum Ultraschall rennen, denn nur, wenn ich das winzige Herzchen auf dem Bildschirm schlagen sehe, glaube ich wirklich, ich bin schwanger.»
So geht es mir mit Martin. Ich weiß, ich habe diesen wunderbaren Mann kennen gelernt. Ich weiß, auch er zeigt alle Anzeichen schwerster Verliebtheit. Aber stehe ich allein vorm Spiegel, sehe ich nur mich, unverändert, mit all meinen Fehlern. Meinen etwas zu krummen Zehen. Den abstehenden Ohren. Den Oberarmen, die etwas zu weichlich sind, als dass man sie guten Gewissens unbedeckt durch den Sommer schleppen sollte. Den Oberschenkeln, die etwas zu üppig sind. Der Nase, die etwas zu breit ist, und dem Brustansatz, der etwas zu tief ist.
Wie viel Platz ist eigentlich bei anderen Leuten zwischen Kehlkopf und Busenbeginn? Manche haben doch die Brüste so weit oben, dass sie fast ihr Kinn darauf ablegen können. Das sieht natürlich immer toll aus. Bei mir, muss ich ehrlich sagen, habe ich den Eindruck, dass sich mein Busen mehr Richtung Bauchnabel als Richtung Kinn orientiert, jedenfalls ist fast alles an mir «etwas zu...». Etwas zu groß, etwas zu dick, etwas zu wenig, etwas zu viel. Und wenn ich mich so betrachte, sehe ich eigentlich aus wie immer - und trotzdem hat sich vor anderthalb Wochen ein Mann in mich verliebt, den ich mir nicht zu erträumen gewagt hätte. Unfassbar. Nicht, wenn ich allein bin mit mir. Dann plagen mich Zweifel und Ängste. Dann frage ich mich, was er wohl an mir findet, ob er sich vertan hat, ob das Ganze nur ein fürchterlicher Irrtum ist. Ich kann’s nur dann wirklich glauben, wenn wir zusammen sind. Wenn er mich ansieht. Seine Augen sind für mich das, was die Ultraschallaufnahmen für meine schwangere Freundin sind: die Bestätigung, dass das alles nicht nur ein Traum ist. Ich weiß, ich weiß, ich höre alle emanzipierten Frauen im Chor aufheulen. Und wäre ich nicht selbst betroffen, würde ich in diesen Schwesternchor einstimmen und mich genauso wüst beschimpfen: «Du darfst deinen Wert nicht danach bemessen, ob du einem Mann gefällst! Du bist schön, egal, ob mit oder ohne Mann. Oder du bist eben nicht schön, auch egal, ob mit oder ohne Mann. Du musst dir in erster Linie selber gefallen, nur dann kannst du überzeugend auch anderen gefallen. Du musst dein Selbstbewusstsein aus dir selbst heraus schöpfen. Deswegen heißt es Selbst- und nicht Fremdbewusstsein, deswegen heißt es Selbstwert und nicht Fremdwert. Du bist nicht schlechter ohne Mann. Und du bist nichts Besseres, nur weil du nicht mehr Single bist.» Und ich weiß, das stimmt. In der Theorie. Aber du kannst zehn Kurse für Frauenrecht besucht und hundertmal für Gleichberechtigung demonstriert haben: Wenn dir der Mann, den du liebst, sagt, ein, zwei Kilo weniger würden dir nicht schaden, ist auch für dich das Wochenende gelaufen. Wirklich, ich halte mich für eine emanzipierte Frau, und ich finde auch nicht, ich bin was Besseres, bloß weil ich endlich mal wieder einen Kerl habe, aber, verdammt, ich fühle mich besser! Ist das verboten? Ich fühle mich ohne Mann schlechter als mit. Ist das unemanzipiert? Und wenn mein Liebster mir über meinen eigentlich zu dicken Hintern streicht und sagt: «Was für ein Prachtstück!», ja, meine Güte, soll ich mich dann von ihm trennen, bloß weil nach diesem Machospruch selbst mir mein moppeliges Gesäß vorkommt wie ein leckerer, runder Po? Mein Selbstwertgefühl ist halt nicht so gefestigt, wie es die Ratgeberbücher und die emanzipierten Freundinnen gerne hätten. Ich habe mich, ehrlich gesagt, immer gewundert, wenn mich jemand Tolles toll fand. Und wenn ich Martin sehe mit seiner Dachwohnung, seinem schicken Auto, dem Geld, das er vermutlich verdient, und den Frauen, die er vermutlich haben könnte, ist es da nicht ganz normal, sich als ganz normale Frau da einen Moment lang zu fragen, ob das auch alles mit rechten Dingen zugeht? Selbst meine Mutter sagte, als ich ihr in groben Zügen von meiner Begegnung mit Martin berichtete: «Das ist aber wirklich erstaunlich, Elli, dass sich so ein Mann für dich interessiert.» Das hatte mich irgendwie gekränkt, obwohl es haargenau meinen eigenen Empfindungen entsprach. Aber von einer Mutter erwartet man doch eigentlich, dass ihr für die eigene Tochter kein Mann gut genug ist.
Was aber gesagt werden muss: Vergleicht man Martin und mich mal rein äußerlich, ist es wirklich nicht so, dass man denkt, ich müsse eine schwerreiche Erbin mit Jagdschloss im Mecklenburgischen und einem
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