Blaue Wunder
«Zimmerlautstärke» ein dehnbarer Begriff ist, und wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Musik habe ich selbstverständlich fast gar nicht gehört. Und als mir einmal nachts um zwei danach zumute war, «Let’s Dance» von David Bowie zehnmal hintereinander richtig schweinelaut zu hören, habe ich brav Kopfhörer aufgesetzt.
Mich traf beinahe der Schlag, als mir irgendwann jemand von hinten auf die Schulter tippte. Ich stieß einen schrillen Todesschrei aus, riss mir die Kopfhörer runter und fuhr herum in der Erwartung, einem bewaffneten Einbrecher gegenüberzustehen. Tatsächlich schauten mich zwei Polizisten streng an, dazu fast die gesamte Hausgemeinschaft und ein Herr vom Schlüsselnotdienst. Ich hatte, bedingt durch mein technisches Unverständnis, vergessen, die Boxen wegzuschalten. Erdal hätte von Anfang an auf die Kopfhörer verzichtet und sich so eine Menge Ärger und Kosten erspart.
Meinen One-Night-Stand-Abend nahm Erdal resolut in die Hand. Er rief Tina an und hatte überhaupt kein Problem damit, ihr in meiner Gegenwart schnörkellos zu sagen, worum es bei diesem Date eigentlich gehen sollte: «Tina, Liebelein, ich habe morgen leider keine Zeit, mit dir auszugehen. Ich will bei mir für Karsten einen romantischen Abend arrangieren, du weißt schon, mit drei Tüten Teelichter um die Badewanne verteilt, Rosenblätter im Flur und Gleitcreme in der Küche. Elli ist dabei natürlich überflüssig. Deswegen wäre ich dankbar, wenn du mit ihr ausgehen könntest. Sie braucht nämlich unbedingt mal wieder Sex und will morgen einen Typen abschleppen. Könnte aber sein, dass sie sich dabei ziemlich dämlich anstellt.
Deshalb wäre es nicht schlecht, wenn ein alter Profi wie du sie begleiten würde. Passt dir halb zwölf im ?»
Als ich am nächsten Abend in den Bus stieg, trug ich ein für meine Verhältnisse ziemlich enges T-Shirt, einen Rock, der meine gnubbeligen Knie knapp bedeckte, und natürlich hohe Schuhe. Auf die Frage, ob das T-Shirt nicht meine Speckröllchen am Unterbauch ungünstig hervorhebe, hatte Erdal gemeint, kein Mann würde auf Speckrollen am Unterbauch achten, solange sich in unmittelbarer Nähe auch noch zwei Brüste aufhielten: «Frage nicht, ob dein Hintern zu dick aussieht. Frage, ob dein Hintern dick genug aussieht. Du musst endlich mal begreifen, dass Männer auf dicke Hintern abfahren.»
Das hatte mich aufgebaut. Die Frage «Ist mein Po auch fett genug?» konnte ich mit einem überzeugten «Ja!» beantworten.
Schwieriger war es, die richtige innere Einstellung für mein Vorhaben zu finden. Ich habe eigentlich nie viel davon gehalten, mit irgendjemandem zu schlafen, bloß weil ich den, den ich haben wollte, nicht haben konnte. Das ist doch so, als würdest du Nusspli auf deinen Toast schmieren, um dich darüber hinwegzutrösten, dass kein Nutella da ist: Jeder traurige Bissen erinnert dich daran, dass was fehlt.
Nein, meine Theorie war es immer, dass One-Night-Sex die Stimmung verstärkt, in der man ohnehin gerade ist. Fühlst du dich gut, geht’s dir anschließend noch besser. Fühlst du dich schlecht, läuft garantiert irgendetwas fundamental schief, und nachher liegst du trübsinnig im Bett neben einem wildfremden Schnarcher, von dem du befürchten musst, dass er bis zum Frühstück durchschläft.
Bist du allerdings so komplett betrunken wie ich bei meinem ersten und einzigen One-Night-Stand, kannst du dir die ganze Sache ohnehin schenken. Du weiß nicht mehr, was, noch nicht mal, ob es passiert ist. Ich habe bis heute nicht wasserfest recherchieren können, ob es in der Nacht meines sechsundzwanzigsten Geburtstags mit Joseph, dem Poolreiniger meines sehr billigen Hotels auf Lanzarote, überhaupt zum Äußersten gekommen ist oder ob ich einfach nur volltrunken auf der Stelle eingeratzt bin. Ich mochte Joseph nicht danach fragen, weil er es eventuell als kränkend empfunden hätte und weil es mir irgendwie peinlich war, dass ich womöglich meinen ersten One-Night-Stand komplett verpennt hatte.
Trotz meiner eher negativen Erfahrungen war ich inzwischen so verzweifelt, dass ich bereit war, diese männliche Form der Liebeskummerbewältigung auszuprobieren. Mir war allerdings immer noch nicht ganz klar, wie ich das passende Objekt zum Vollzug des Geschlechtsaktes überhaupt finden und auf meine Willigkeit aufmerksam machen sollte. Zur Weiterbildung im Bereich «Anmache und Anbahnung sexueller Kontakte» hatte ich eine «Cosmopolitan» gekauft mit dem Titelthema:
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