Blauer Montag
Nachdem sie die richtige Seite gefunden hatte, deutete sie auf einen bestimmten Punkt. »Wir befinden uns hier«, erklärte sie. Sie bewegte den Finger einen Zentimeter zur Seite. Ich glaube, dass er ursprünglich hier gefangen gehalten wurde. Dean war gezwungen, den Jungen schnell an einen anderen Ort zu verfrachten. Deswegen behaupte ich jetzt einfach mal, dass er ihn höchstens einen Kilometer von dort weggebracht hat. Allerhöchstens anderthalb.«
»Warum nur anderthalb? Warum nicht zehn oder zwanzig?«
»Es musste ganz schnell gehen. Reeve musste sich irgendein nahe gelegenes Versteck einfallen lassen. Einen Ort, den er kannte.«
»Vielleicht hat er ihn bei einem Freund untergebracht?«
Frieda schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht«, entgegnete sie. »Einen Gegenstand würde man vielleicht zu einem Freund bringen, aber nicht ein Kind. Das müsste schon ein besonders enger Freund sein, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er so einen hat. Meiner Meinung nach hält er Matthew irgendwo versteckt. An einem Ort, zu dem er jederzeit Zugang hatte. Aber dann wurde er von der Polizei beobachtet und konnte dort nicht mehr hin.«
Josef verschränkte die Arme, als wollte er sich auf diese Weise vor der Kälte schützen. »Da bleiben aber viele Fragen. Ist er überhaupt der Mann, der den Jungen entführt hat? Lebt der Junge noch? Hat er ihn wirklich in der Nähe des Hauses versteckt?«
»Für mich steht das außer Frage«, erwiderte Frieda.
»Anderthalb Kilometer«, sagte Josef. Er legte den Zeigefinger an die Stelle auf der Landkarte, wo Dean Reeve wohnte. »Anderthalb«, wiederholte er und zeichnete mit dem Finger einen Kreis rund um den Punkt. »Das sind mindestens sechs Quadratkilometer, wahrscheinlich sogar mehr.«
»Ich habe dich mitgenommen, damit du mir hilfst«, erklärte
Frieda, »und nicht, damit du mir sagst, was ich sowieso schon weiß. Wenn du er wärst, was hättest du getan?«
»Wenn ich etwas stehlen würde, dann vielleicht Werkzeug. Einen Bohrer oder eine Schleifmaschine. So was kann man für ein paar Pfund verkaufen. Ich würde doch kein kleines Kind stehlen.«
»Nehmen wir trotzdem mal an, du hättest es getan.«
Josef zuckte ratlos mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er. »Wahrscheinlich hätte ich ihn in einem Schrank versteckt oder in einer großen Kiste. In einem Raum, den man absperren kann. An einem Ort, wo keine Leute sind.«
»Hier in der Gegend gibt es viele Orte, wo keine Leute sind«, antwortete Frieda. »Also? Drehen wir eine Runde?«
»In welche Richtung sollen wir gehen?«
»Nachdem wir nicht wissen, wo er sein könnte und wo genau wir nach ihm suchen sollen, ist es im Grunde egal, in welche Richtung wir gehen. Ich habe mir gedacht, wir bewegen uns spiralförmig von seinem Haus weg.«
»Spiralförmig?«
Frieda zeichnete mit dem Finger eine Spirale in die Luft. »Du weißt schon: wie wenn Wasser in ein Loch läuft.« Sie deutete die Straße hinauf. »Diese Richtung.« Sie gingen an einer Wohnsiedlung vorbei, die nach John Ruskin benannt war. Frieda ließ den Blick die Häuserreihe entlangschweifen. Mehr als die Hälfte der Wohnungen wiesen Metallgitter vor den Türen und Fenstern auf. Jede dieser leer stehenden Wohnungen kam als Versteck infrage. Am Ende der Wohnsiedlung stand ein Gaswerk mit rostigen Ketten vor dem Eingang. Einem alten Schild zufolge wurde das Gelände von Hunden bewacht. Frieda hielt das für eher unwahrscheinlich. Inzwischen gingen sie in Richtung Norden. Am Ende der Straße bogen sie nach Osten ab, vorbei an einem Lastwagendepot und einem Schrotthändler.
»Hier sieht es aus wie in Kiew«, stellte Josef fest. »Weil es in Kiew so war, bin ich nach London gekommen.« Vor einer
Reihe geschlossener Läden blieb er stehen. Sie blickten zu den alten Geschäftsnamen hinauf, die noch an den Ziegelfassaden prangten: Evans & Johnsons Stationers, J. Jones Stores, The Black Bull . »Alle weg«, stellte Josef fest.
»Vor hundert Jahren war das hier eine ganze Stadt«, erklärte Frieda. »Dort unten befanden sich die größten Hafenanlagen der Welt. Die Schiffe standen bis zum Meer hinunter Schlange, um ihre Waren zu entladen. Zehntausende von Arbeitern lebten hier mit ihren Frauen und Kindern. Im Krieg wurde dann alles zerbombt und niedergebrannt. Nun ist es wie in Pompeji, auch wenn immer noch Menschen versuchen, hier zu leben. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, man hätte die Gegend in Felder, Wälder und Sümpfe zurückverwandelt.«
Ein
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