Blauer Montag
sie zu denken. Wobei meine Mutter natürlich noch am Leben ist. Wahrscheinlich wird es mir leichter fallen, mit ihr zu reden, wenn sie erst mal tot ist. Dann kann ich wenigstens so tun, als wäre sie gewesen, was sie niemals war – eine Mutter, die einem zuhört und einen versteht, wenn man ihr sein Herz ausschüttet. Das würde ich mir wünschen: neben einem Grab zu liegen und mit meinen Vorfahren zu reden. Natürlich passiert das im Film meistens auf einem besonders idyllischen Friedhof, an einem Berghang oder so.«
»Wir wünschen uns alle eine Familie.«
»Das klingt wie ein Spruch aus einem dieser Knallbonbons, die wir Engländer an Weihnachten so gern aufmachen«, meinte Alan, »also genau passend für die Jahreszeit.«
40
I ch übernehme die Nachspeise«, verkündete Chloë. Sie klang ungewohnt lebhaft. »Allerdings wird es ganz bestimmt keinen Plumpudding geben. Den kann ich nämlich nicht ausstehen – mal ganz davon abgesehen, dass er ungefähr eine Billion Kalorien pro Löffel hat. Außerdem hätte ich den schon vor Wochen machen müssen, aber da bin ich ja noch davon ausgegangen, dass ich mit meinem Dad feiern würde – dem dann ja was Besseres eingefallen ist. Schätzungsweise gäbe es so einen Pudding auch schon fertig, aber das wäre geschummelt. An Weihnachten muss man schon selbst kochen. Da kann man nicht einfach was Fertiges kaufen und für ein paar Minuten in die Mikrowelle schieben.«
»Nein?« Frieda trat mit dem Telefon vor die große Londonkarte, die sie an der Wand hängen hatte. Das Licht war so schwach, dass sie die Augen zusammenkneifen musste.
»Jedenfalls mache ich eine Nachspeise, die ich im Internet gefunden habe«, fuhr Chloë fort. »Mit Himbeeren, Erdbeeren und Preiselbeeren. Und mit weißer Schokolade.«
Frieda legte ihren Zeigefinger auf die Gegend, die sie gerade in Augenschein nahm, und zeichnete mit dem Finger eine Route.
»Was hast du denn geplant?«, fuhr Chloë fort. »Hoffentlich keinen Truthahn. Truthahn schmeckt nach gar nichts. Mum hat gesagt, dass du bestimmt keinen Truthahn machst.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.« Mittlerweile war Frieda auf dem Weg in ihr Schlafzimmer. »Lasst euch überraschen.«
»Sag jetzt bloß nicht, dass du noch gar nicht darüber nachgedacht hast. Bitte nicht! Morgen ist Heiligabend. Es ist mir
egal, ob ich Geschenke bekomme oder nicht. Im Grund ist es mir auch egal, was es übermorgen bei dir zu essen gibt, aber ich fände es schrecklich, wenn du dir nicht mal die Mühe machen würdest, darüber nachzudenken. Als würde es sowieso keine Rolle spielen. Das könnte ich nicht ertragen. Das meine ich ernst. Wir reden von Weihnachten, Frieda, vergiss das nicht. Alle meine Freundinnen gehen zu großen Familienfeiern oder fliegen mit ihrem Dad nach Mauritius oder so was in der Art. Ich komme zu dir. Du musst dir schon ein bisschen Mühe geben, damit es ein besonderer Festtag wird.«
»Ich weiß.« Frieda fiel es schwer, sich auf das Gespräch mit ihrer Nichte zu konzentrieren. Sie zog einen dicken Pulli aus dem Schrank und warf ihn aufs Bett, gefolgt von einem Paar Handschuhen. »Das werde ich. Bestimmt. Ich verspreche es.« Beim Gedanken an Weihnachten wurde ihr leicht übel. Ein verschwundener Junge und eine vermisste Frau. Dean und Terry Reeve wieder auf freiem Fuß. Und sie selbst sollte mit einer Papierkrone auf dem Kopf essen, trinken und lachen.
»Sind es nur wir drei, oder hast du noch andere Leute eingeladen? Für mich wäre das kein Problem. Ganz im Gegenteil, ich fände es nett. Schade, dass Jack nicht kommen kann.«
»Was?«
»Jack. Du weißt schon.«
»Du kennst Jack doch gar nicht.«
»Doch.«
»Du hast ihn ein einziges Mal getroffen, und zwar für ungefähr dreißig Sekunden.«
»Stimmt. Weil du ihn sofort hinausgescheucht hast, damit ich mich ja nicht mit ihm unterhalten konnte. Aber wir sind jetzt auf Facebook miteinander befreundet.«
»Was du nicht sagst!«
»Ja. Wenn er wieder da ist, treffen wir uns mal. Ist das ein Problem?«
Ob das ein Problem war? Natürlich war das ein Problem.
Ihr Praktikant und ihre Nichte. Aber damit würde sie sich später auseinandersetzen, nicht jetzt. »Wie alt bist du?«, fragte sie.
»Du weißt genau, wie alt ich bin. Sechzehn. Alt genug.«
Frieda biss sich auf die Lippe. Sie wollte nicht fragen: Alt genug wofür?
»Wir könnten Scharaden spielen«, fuhr Chloë fröhlich fort. »Wann sollen wir kommen?«
»Was meinst du denn?«
»Vielleicht am frühen Nachmittag?
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