Blauer Montag
den Jungen und die Frau in irgendeiner verlassenen Wohnung gefesselt in einen Schrank gesperrt haben, wie lange können sie dann ohne Wasser überleben? Wenn sie nicht sowieso längst … na ja, Sie wissen schon.
Jedenfalls könnte es sein, dass er Kontakt zu Ihnen aufnimmt. Es sind schon seltsamere Dinge passiert. Seien Sie vorbereitet.«
Nachdem Frieda aufgelegt hatte, schenkte sie sich zwei weitere Fingerbreit Whisky ein und kippte ihn hinunter. Sie spürte das vertraute Brennen in der Kehle, das sie dennoch jedes Mal aufs Neue verblüffte. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, doch das Feuer war ausgegangen, und der Raum fühlte sich kalt und trist an. Ihr war klar, dass sie dringend Schlaf brauchte, doch die Vorstellung, sich wieder mit offenen Augen im Bett herumzuwälzen, während ihr all die Bilder durch den Kopf wirbelten, machte ihr Angst. Sie legte sich für eine Weile aufs Sofa und deckte sich mit einer Wolldecke zu, doch an Schlaf war nicht zu denken. Stattdessen wurde sie immer wacher, und eine nervöse Unruhe ergriff von ihr Besitz. Schließlich stand sie wieder auf und ging in die Küche, von wo sie in ihren kleinen Garten hinaustrat. Obwohl die kalte Luft sie keuchen ließ und ihr die Tränen in die Augen trieb, empfand Frieda sie gleichzeitig auch als sehr wohltuend. Die Kälte riss sie aus ihrem Delirium der Erschöpfung, klärte ihren Kopf und schärfte ihre Sinne. Ohne Mantel und Handschuhe stand sie da, bis sich ihr Gesicht schon ganz steif anfühlte und sie es nicht mehr ertragen konnte. Erst dann kehrte sie ins Haus zurück.
Sie ging hinaus in die Diele und trat vor den Stadtplan, den sie neben der Tür hängen hatte. Da sie in dem schwachen Licht nicht alle Details und Straßennamen erkennen konnte, riss sie ihn von der Wand und nahm ihn mit ins Wohnzimmer, wo sie ihn auf dem Tisch ausbreitete und das Deckenlicht einschaltete. Selbst das reichte nicht aus. Sie holte die Leselampe, die sie neben dem Bett stehen hatte, trug sie ins Wohnzimmer und stellte sie auf den Stadtplan. Dann holte sie einen Bleifstift und zeichnete ein Kreuz auf die Straße, wo Dean Reeve lebte. Plötzlich hatte sie das schwindelerregende Gefühl, an einem völlig wolkenfreien Tag in einem Flugzeug zu sitzen und aus einer Höhe von knapp einem Kilometer auf London hinunterzublicken.
Sie sah die großen Erkennungszeichen: die Windungen der Themse, den Millenium Dome, den City Airport, den Victoria Park und den Bereich von Lea Valley. Als sie genauer hinschaute, konnte sie auch die Straßen erkennen, die sie mit Josef abgegangen war. Sie sah die schraffierten Flächen, mit denen die Wohnsiedlungen und Fabriken eingezeichnet waren.
Frieda musste daran denken, wie sie bei Alan versagt hatte, nicht nur als Therapeutin, sondern auch als Ermittlerin. Alan und Dean hatten das gleiche Gehirn, dachten die gleichen Gedanken und träumten die gleichen Träume – so wie zwei Vögel, die derselben Art angehörten, identische Nester bauten. Doch der einzige Weg in ihr Gehirn führte über das Unbewusste, und bei ihrem letzten Gespräch mit Alan war es so ähnlich gewesen, als hätte sie einen Radfahrer gebeten, ihr zu erklären, wie man mit einem Rad fuhr. Alan war nicht nur unfähig gewesen, in Worte zu fassen, was sie von ihm wissen wollte, sondern hatte darüber hinaus auch seine Unbefangenheit verloren. Wenn man während des Radfahrens darüber nachdachte, wie man mit einem Rad fuhr, fiel man aller Wahrscheinlichkeit nach herunter. Alan war ihr auf die Schliche gekommen und sauer auf sie geworden. Vielleicht war das ein Zeichen von Stärke. Man konnte es auch als Zeichen dafür deuten, dass die Therapie Erfolg zeigte – und damit womöglich bereits zu Ende war. Frieda hatte das Gefühl, dass sie durch ihre Fragen die Verbindung zwischen ihnen beiden zerstört hatte. Vermutlich ließ sich dieser Schaden nicht wiedergutmachen. Alan würde sich ihr nie wieder so öffnen können, wie das für einen Patienten erforderlich war. Wieder musste sie an ihr letztes Gespräch denken. Bezeichnenderweise hatte der beste Teil dieses Gesprächs – der einzige Moment echter Vertrautheit zwischen ihnen – erst nach der eigentlichen Sitzung stattgefunden, als sie beide bereits im Gehen begriffen waren und Alan sie nicht mehr als seine Therapeutin sah. Wie hatte er es noch mal formuliert? Sie versuchte sich an seine Worte zu erinnern. Es war um seine Mutter gegangen. Seine Familie.
Ihr kam ein Gedanke. War das möglich? In dem Moment hatte
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