Blauer Montag
Schreibtisch saß eine alte Frau. Vor ihr standen eine Thermoskanne und ein kleines Schild mit der Aufschrift: »Freunde des Friedhofs von Chesney Hall«. Wahrscheinlich hatte sie draußen auch einen geliebten Menschen liegen, einen Ehemann oder ein Kind. Vielleicht fühlte sie sich hier zu Hause, umgeben von ihrer Familie. Frieda kramte ihren Geldbeutel heraus und wühlte darin herum.
»Haben Sie hier ein Telefon?«, fragte sie.
»Ja, aber ich bin kein…«, begann die Frau.
Frieda fand die gesuchte Karte. »Es ist ganz dringend«, erklärte sie, »ich muss die Polizei anrufen.«
Nachdem sie mit ein paar hektischen Worten Karlsson informiert hatte, wandte Frieda sich wieder der alten Frau zu.
»Ich muss ein Familiengrab finden. Ist das möglich?«
»Wir haben hier Pläne des Friedhofs vorliegen«, antwortete die Frau. »Darauf sind fast alle Gräber verzeichnet. Wie lautet denn der Name?«
»Reeve. R-E-E-V-E.«
Die Frau erhob sich und ging zu einem in der Ecke stehenden Aktenschrank. Sie schloss ihn auf und kehrte mit einem dicken Buch zu Frieda zurück. Wie sich herausstellte, war es voller handschriftlicher Aufzeichnungen. Die Tinte war ursprünglich wohl schwarz gewesen, inzwischen aber zu Grau
verblasst. Langsam und bedächtig begann die alte Frau die Seiten durchzublättern, wobei sie hin und wieder mit der Zunge ihren Zeigefinger befeuchtete.
»Wir haben hier drei Reeves aufgelistet«, erklärte sie schließlich. »Theobald Reeve, der 1927 starb, seine Frau Ellen Reeve, 1936, und eine Sarah Reeve, 1953.«
»Wo sind sie begraben?«
Die Frau kramte in einer Schublade herum und zog eine gedruckte Karte des Friedhofs heraus.
»Hier.« Sie legte ihren Finger auf die Stelle. »Sie sind alle recht nah beieinander beerdigt. Wenn sie den Mittelpfad entlanggehen und dann den dritten Pfad zu Ihrer …«
Doch Frieda hatte ihr bereits das Blatt Papier aus der Hand gerissen und war davongestürmt. Die alte Frau blickte ihr einen Moment nach. Dann schraubte sie ihre Thermoskanne auf und wartete weiter auf die Hinterbliebenen, die an diesem Tag auf den Friedhof kommen würden, um die Toten zu besuchen. An Weihnachten herrschte immer viel Betrieb.
Frieda eilte den Hauptweg entlang und bog in den betreffenden Pfad zu ihrer Rechten ein. Es war ein schmaler, aber offenbar viel begangener Weg. Zu beiden Seiten ragten Grabsteine auf, darunter auch einige recht neue aus weißem Marmor, auf denen die Namen der Verstorbenen in klaren schwarzen Buchstaben prangten. Andere Steine waren älter und bereits mit Flechten oder Efeu überwachsen. Zum Teil hatten sich die Steine im Lauf der Jahre auch nach hinten geneigt. Die Namen mancher der dort ruhenden Verstorbenen waren kaum noch lesbar, sodass Frieda mit den Fingern über die Buchstaben streichen musste, um sie entziffern zu können. Die Philpotts, die Bells, die Farmers, die Thackerays. Einige von ihnen waren sehr alt geworden, andere nicht einmal über die Teenagerjahre hinausgekommen. Manche bekamen noch Blumen hingestellt, viele waren längst vergessen.
So schnell, wie sie nur konnte, setzte Frieda ihren Weg zwischen
den Grabsteinen fort, musste sich aber fast bei jedem bücken und die Augen zusammenkneifen, um im schwachen Licht die Namen lesen zu können. Die Lovatts, die Gorans, die Booths. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit, während ihre Brust vor Hoffnung schmerzte. Von einem kahlen Dornbusch starrte sie eine Amsel an, und in der Ferne hörte sie Motorengeräusche. Fairley, Fairbrother, Walker, Hayle. Dann erstarrte sie plötzlich mitten in der Bewegung. In ihren Ohren begann es zu rauschen. Reeve. Hier war ein Reeve – ein kleiner, bröckelnder Grabstein, der sich leicht zur Seite neigte. Sie hatte das Versteck gefunden.
Dann aber begriff sie mit einem niederschmetternden Gefühl des Scheiterns, dass sie gar nichts gefunden hatte. Denn wie sollte hier, zwischen all den mickrigen Gräbern, die sie umgaben, ein Kind versteckt sein? Mit einem Anflug von Entsetzen blickte sie sich nach einer frisch umgegrabenen Stelle um, wo jemand eine Leiche verscharrt haben könnte, doch alles war dicht mit Unkraut überwuchert. Hier hatte man niemand versteckt oder verscharrt. Sie sank neben dem Grabstein von Theobald Reeve auf die Knie. Das Gefühl, versagt zu haben, überfiel sie mit einer solchen Heftigkeit, dass ihr davon fast übel wurde. Matthew war also doch nicht hier. Es war nur eine Illusion von ihr gewesen, ein letztes Aufflammen von Hoffnung.
Sie konnte
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