Blauer Montag
Nur die Monitore bewiesen, dass er nicht tot war.
In einer Ecke des Raums saß Detective Constable Munster, ein junger Mann mit dunklem Haar und dunklen Augen, der an der Suche nach Matthew vom ersten Tag an beteiligt gewesen war. Er wirkte fast so bleich wie der Junge und saß völlig reglos da, wie in Stein gemeißelt. Er wartete darauf, dass der Junge das Bewusstsein wiedererlangte. Matthews Augen zuckten. Einen Moment lang öffneten sie sich einen Spalt, schlossen sich aber gleich wieder. Seine Wimpern waren lang und rötlich,
seine Augenlider durchscheinend. Frieda war von Karlsson gebeten worden, bei Matthew zu bleiben, bis die Kinderpsychologin eintraf. Trotzdem fühlte sie sich irgendwie fehl am Platz und von dem ganzen Prozess ausgeschlossen: Fast neidvoll lauschte sie den schnellen Schritten, dem Klappern der Rollwagen, dem Gemurmel der Ärzte und Schwestern. Noch schlimmer war, dass sie sämtliche Fachausdrücke verstand. Sie wusste, was es bedeutete, wenn von intravenös verabreichter warmer Kochsalzlösung und der Gefahr eines hypovolämischen Schocks die Rede war. Während alle mit vereinten Kräften versuchten, Matthews Kerntemperatur zu erhöhen, musste sie sich mit der Rolle einer Zuschauerin begnügen.
Jemand führte die Eltern herein. Ihren bleichen, abgehärmten Gesichtern war deutlich anzusehen, dass sie tagelang mit schlimmen Nachrichten gerechnet hatten. Nun gab es für sie wieder Hoffnung, was jedoch neue Ängste mit sich brachte. Die Frau kniete sich neben das Bett, schob die Schläuche beiseite, griff nach Matthews verbundener Hand und presste ihr Gesicht an seinen Körper. Zwei Schwestern mussten sie von ihm wegziehen. Der Mann wirkte erregt und auf eine wütende Art verwirrt. Sein Blick schweifte nervös im Raum umher. Ihm entgingen weder die vielen Apparaturen noch die allgemeine Hektik.
»Was fehlt ihm?«
Ein Arzt studierte gerade das Krankenblatt. Er nahm kurz die Brille ab und rieb sich die Augen. »Wir tun alles in unserer Macht Stehende, aber er ist extrem dehydriert und leidet unter starker Hypothermie. In anderen Worten, er ist gefährlich unterkühlt.«
Mrs. Faraday stieß ein gequältes Schluchzen aus. »Mein kleiner Junge! Mein wunderschöner Sohn!« Sie hob seine Hand an ihre Lippen und drückte einen Kuss darauf. Dann ging sie dazu über, ihn am Arm und am Hals zu streicheln, während sie gleichzeitig immer wieder zu ihm sagte, nun werde alles gut und er sei in Sicherheit.
»Aber er kommt wieder in Ordnung?«, fragte Mr. Faraday. »Er kommt doch wieder in Ordnung, nicht wahr?« Als könnte er durch sein Insistieren bewirken, dass dieser Wunsch sich erfüllte.
»Wir sind gerade dabei, ihn zu rehydrieren«, erklärte der Arzt. »Außerdem werden wir einen sogenannten kardiopulmonalen Bypass legen, was bedeutet, dass wir ihn an eine Maschine hängen, das Blut aus seinem Körper pumpen, es aufwärmen und dann wieder hineinpumpen.«
»Und dadurch kommt er wieder in Ordnung?«
»Sie warten jetzt besser draußen«, sagte der Arzt. »Wir informieren Sie, sobald sich etwas tut.«
Frieda trat vor und griff nach der Hand von Mrs. Faraday, die einen sehr verstörten Eindruck machte und sich widerstandslos hinausführen ließ. Ihr Mann folgte ihnen. Man brachte sie in ein kleines, fensterloses Wartezimmer mit nur vier Stühlen und einem Tisch, auf dem eine Vase mit Plastikblumen stand. Dort sah Mrs. Faraday Frieda an, als hätte sie sie eben erst bemerkt.
»Sind Sie Ärztin?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Frieda. »Ich habe mit der Polizei zusammengearbeitet. Ich habe schon auf Sie gewartet.« Mit diesen Worten ließ sie sich neben den beiden nieder, und Mrs. Faraday begann zu reden wie ein Wasserfall. Ihr Mann dagegen sagte kein Wort. Frieda registrierte seine ungepflegten Fingernägel und seine rot geränderten Augen. Sie selbst sprach auch kaum. Nur einmal, als Mrs. Faraday ihr direkt in die Augen sah und sie fragte, ob sie Kinder habe, verneinte sie.
»Dann können Sie das nicht nachvollziehen«, sagte Mrs. Faraday.
»Nein, wahrscheinlich nicht.«
Da meldete sich plötzlich Mr. Faraday zu Wort. Seine Stimme klang rau, als hätte er eine Halsentzündung. »Wie lange war er in dem Grab?«
»Nicht lange.«
Zu lange. Kathy Ripon hatte am Samstagnachmittag bei Dean Reeve vorgesprochen. Inzwischen war Weihnachten. Frieda musste an die vergangenen Tage denken. Regen, Schneeregen, Schnee. Bestimmt war von den Wänden Wasser herabgelaufen, das er wie ein Tier auflecken
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