Blauer Montag
Frau und seine Kinder nicht wieder. Angeregt durch diesen Fall hatte Frieda über die Einzigartigkeit jedes menschlichen Gesichts nachzudenken begonnen und über unsere erstaunliche Fähigkeit, in den Zügen anderer Menschen zu lesen. Zu Hause hatte sie Dutzende von Büchern voller Porträts stehen, zum Teil Bände berühmter Fotografen, aber auch andere, die aus Antiquariaten stammten und Bilder unbekannter, längst verstorbener Menschen enthielten, aufgenommen von anonymen Fotografen. Manchmal, wenn sie wieder nicht schlafen konnte und selbst ihre nächtlichen Wanderungen sie nicht müde genug machten, nahm sie ein Buch heraus und blätterte es durch. Dann starrte sie in die Gesichter von Männern, Frauen und Kindern und versuchte, vom Ausdruck ihrer Augen auf ihr Innenleben zu schließen.
Sie erkannte Alan Dekker sofort als den Mann, den sie vor Reubens Büro gesehen hatte. Sein rundes, bereits ziemlich faltiges Gesicht mit den blassen, fleckigen Sommersprossen wirkte zwar nicht richtig schön, aber durchaus ansprechend. Irgendetwas in seinen traurigen braunen Augen erinnerte Frieda an einen Hund, der damit rechnete, geschlagen zu werden, aber
dennoch um Zuneigung bettelte. Seine Stimme klang unsicher, und beim Sprechen schlug er immer wieder mit der einen, zur Faust geballten Hand gegen die andere Handfläche. Frieda bemerkte, dass seine Nägel bis aufs Fleisch heruntergekaut waren.
»Sie glauben – Sie glauben – Sie glauben …«, stammelte er. Offenbar war er es gewohnt, unterbrochen zu werden. Er sprach, um die Lücken zu füllen, bis er die richtigen Worte herausbekam. »Sie glauben, es war leicht für mich, zu diesem Mann zu gehen?«
»Das ist niemals leicht«, erwiderte Frieda. »Bestimmt hat es Sie große Überwindung gekostet.«
Alan starrte sie einen Moment verwirrt an. »Ich bin nur wegen Carrie hin, meiner Frau. Sie wollte unbedingt, dass ich es mache. Sie hat mich bis vor die Tür gefahren. Ich glaube nicht, dass ich sonst hingegangen wäre. Der Mann hat mich zum Narren gehalten.«
»Er hat Sie enttäuscht.«
»Er hat mir überhaupt nicht zugehört. Der Typ konnte sich nicht mal an meinen Namen erinnern!«
Er sah Frieda erwartungsvoll an, doch sie nickte nur wortlos und beugte sich dabei ein wenig weiter vor.
»Und so jemand kassiert das Geld der Steuerzahler! Dem werde ich es aber zeigen!«
»Das steht Ihnen frei«, antwortete Frieda. »Ich möchte hiermit in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen, dass es für sein Verhalten Ihnen gegenüber keine Entschuldigung gibt.« Sie überlegte einen Moment, während sie innerlich vor sich hin fluchte. »Was auch immer Sie deswegen zu unternehmen gedenken – ich hatte trotzdem gehofft, wir beide könnten das alles noch einmal durchsprechen.«
»Sie wollen mich dazu überreden, von einer Beschwerde abzusehen ?«
»Nein, ich möchte mit Ihnen über Ihre Gefühle sprechen, Ihr Leiden. Denn Sie leiden doch unter irgendetwas, nicht wahr?«
»Darum geht es nicht.« Alan blinzelte die Tränen weg, die ihm schlagartig in die Augen traten. »Deswegen bin ich nicht hier.«
»Wie würden Sie Ihre Gefühle beschreiben?«
Alan hob den Kopf und sah sie an. Seine Gesichtszüge wurden weicher, als erlahmte seine Gegenwehr.
»Ich kann mich nicht gut ausdrücken«, erklärte er. »Alles fühlt sich irgendwie falsch an. Ich habe mich krankschreiben lassen. Es kommt mir vor, als wäre mein Herz auf einmal zu groß für meine Brust. Ich habe einen unangenehmen Geschmack im Mund, wie nach Metall. Oder Blut. Und mir gehen so komische Gedanken durch den Kopf. Sie lassen mich nachts aufwachen. Ich kann nicht… Es ist, als befände ich mich nicht mehr in meinem eigenen Leben. Ich fühle mich gar nicht mehr wie ich selbst, und das macht mir Angst. Ich kann nicht …«, er schluckte, »… ich kann nicht mehr mit meiner Frau schlafen. Obwohl ich sie liebe, schafft mein Körper es nicht mehr.«
»Das ist gar nicht so ungewöhnlich«, antwortete Frieda. »Sie glauben gar nicht, wie häufig das vorkommt.«
»Ich fühle mich deswegen ganz schrecklich«, sagte Alan. »Und auch wegen all der anderen Dinge.«
Sie sahen sich an.
»Als Sie zu Dr. McGill gegangen sind, haben Sie den ersten Schritt gewagt«, brach Frieda das Schweigen. »Dass Sie dabei solches Pech hatten, tut mir sehr leid. Meinen Sie, Sie könnten es noch einmal versuchen? Mit mir?«
»Deswegen bin ich nicht gekommen, ich …« Er brach ab, als kostete ihn das Sprechen zu große Mühe. »Glauben
Weitere Kostenlose Bücher