Blauer Montag
Über die Innenseite zog sich eine leuchtend rote Narbe. »Ich bin von einer Leiter gefallen«, erklärte er, »und durch ein Fenster. Einmal habe ich mir ein Bein gebrochen, als ein …« Den Rest wischte er mit einer Handbewegung beiseite. »Egal, jedenfalls ist etwas Größeres über mich drüber, und hinter mir war eine Wand. Dagegen war das eben gar nichts.«
Er nahm einen Schluck von seinem Tee und blickte durchs Fenster auf die Abbrucharbeiten. »Das ist ein großes Projekt.«
»Sollten wir nicht lieber über das große Projekt hier drin sprechen?«
Josef wandte den Kopf und betrachtete den Schutt auf dem Boden, dann das Loch in der Decke. »Eine üble Sache«, stellte er fest.
»Ich arbeite hier«, sagte Frieda.
»Sie können hier nicht mehr arbeiten«, entgegnete Josef.
»Was soll ich dann Ihrer Meinung nach tun? Besser gesagt, was werden Sie tun?«
Josef sah erneut zu dem Loch hinauf. Ein melancholisches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Es ist meine Schuld«, räumte er ein, »aber eigentlich ist es die Schuld von denen, die den Boden gebaut haben.«
»Ihr Boden macht mir weniger Sorgen«, meinte Frieda. »Mir geht es um meine Decke.«
»Es ist nicht mein Boden. Ich mache nur die Arbeit, während die Leute in ihrem Haus auf dem Land sind. Das hier ist ihre Stadtwohnung.«
»Sie arbeiten jeden Tag hier?«
»Jeden Tag. Außer am Wochenende.«
Während er in der einen Hand noch die Teetasse hielt, wandte er sich wieder Frieda zu und führte dabei mit einem gewissen theatralischen Schwung die freie Hand ans Herz. Zusätzlich verneigte er sich leicht. »Ich werde alles für Sie reparieren!«
»Wann?«
»Es wird besser sein als vorher – bevor ich durch das Loch
gefallen bin.«
»Sie sind nicht durch das Loch gefallen. Sie haben das Loch gemacht .«
Nachdenklich runzelte er die Stirn. »Wann wollen Sie wieder hier arbeiten?«
»Am liebsten schon morgen, aber das kann ich vermutlich vergessen.«
Josef blickte sich um. Dann lächelte er. »Ich bringe eine Trennwand an«, verkündete er. »Dahinter kann ich arbeiten, und Sie haben Ihr Büro zurück. Wenn Sie mal nicht da sind, werde ich alles neu tapezieren. Oder streichen. In einer richtig schönen Farbe.«
»Das ist eine richtig schöne Farbe.«
»Wenn Sie mir einen Schlüssel geben, mache ich das mit der Trennwand gleich heute, dann haben Sie Ihr Büro zurück. Nur ein bisschen kleiner.«
Er hielt ihr die Hand hin. Frieda überlegte kurz. Sie war im Begriff, ihren Schlüssel einem Mann auszuhändigen, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Aber was blieb ihr anderes übrig? Sollte sie sich lieber einen anderen Handwerker suchen?
Was konnte schlimmstenfalls passieren? Eine Frage, die man sich besser nicht stellte. Sie zog eine Schublade heraus, fand einen Zweitschlüssel und reichte ihn Josef. »Sie sind Ukrainer ?«, fragte sie.
»Kein Pole.«
Am besten sind die Schüchternen mit ihrem ängstlichen Lächeln und ihrer zitternden Unterlippe. Diejenigen, die Sehnsucht nach ihrer Mutter haben und trotz des kalten, feuchten Wetters auf der Treppe sitzen, bis ihre Lehrkraft kommt und sie dazu drängt, aufzustehen und herumzulaufen. Man braucht solche, die es allen recht machen wollen und gehorchen. Die sich gut formen lassen.
Ein kleiner Junge sitzt auf der hölzernen Wippe und wartet darauf, dass sich jemand aufs andere Ende setzt. Obwohl niemand kommt, bleibt er sitzen. Zuerst lächelt er noch voller Hoffnung, aber nach und nach gefriert das Lächeln auf seinem Gesicht. Er merkt, wie die anderen Kinder ihn ansehen und dann beschließen, sich nicht zu ihm zu gesellen. Er versucht, einen Jungen herbeizurufen, doch der ignoriert ihn.
Möglicherweise ist er der Richtige. Man muss wissen, wonach man Ausschau hält, aber man muss auch sehr vorsichtig sein. Es spielt keine Rolle, wie lange es dauert. Zeit ist kein Thema.
10
D as war interessant«, meinte Sandy.
Hand in Hand gingen sie durch die Innenstadt. Ihr Ziel war Sandys Wohnung, die nur noch ein paar hundert Meter entfernt lag. Auf beiden Straßenseiten ragten imposante Gebäude auf – so hoch, dass sie fast den Blick zum Himmel versperrten: Banken, Finanzinstitute und noble Anwaltskanzleien mit illustren Namen über der Tür. Es roch regelrecht nach Geld. Die Straßen wirkten sauber und verlassen. Ampeln schalteten von Rot auf Grün und wieder zurück, aber nur hin und wieder fuhr ein Taxi durch.
Sie kamen von einer Abschiedsparty, veranstaltet für einen Arzt,
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