Blauer Montag
Vine das alles schon viel zu oft erzählt – und zwar jedem, der bereit war, ihm an der Kneipentheke zuzuhören.
»Würden Sie Joanna als vertrauensvolles Kind beschreiben ?«, fragte er, wie er auch Deborah Teale gefragt hatte.
»Sie war eine kleine Prinzessin.«
»Aber hatte sie auch Vertrauen zu anderen Leuten?«
»Man kann auf dieser Welt niemandem trauen. Das hätte ich ihr sagen sollen.«
»Hätte sie einem Fremden vertraut?«
Ein seltsamer Ausdruck trat in Richard Vines Gesicht. Er wirkte misstrauisch und nachdenklich zugleich. »Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich, »vielleicht, vielleicht auch nicht. Herrgott noch mal, sie war doch erst fünf. Das Ganze hat mein Leben ruiniert, müssen Sie wissen. Erst lief alles recht gut, und dann – nun ja, es war, wie wenn jemand an einem
von den Strickzeugen ziehen würde, die Rose immer dabeihat, wenn sie mich besuchen kommt: Alles löst sich einfach auf, und nach wenigen Augenblicken gibt es keinerlei Beweis mehr dafür, dass überhaupt jemals etwas existiert hat.« Er sah Karlsson an, und für einen Moment bekam der Detective eine Ahnung von dem Mann, der er einmal gewesen war. »Das ist auch der Grund, warum ich meiner Ex nicht verzeihen kann. Ihr Leben hat sich nicht so aufgelöst wie meines. Sie hätte mehr leiden müssen. Sie hat nicht den angemessenen Preis bezahlt.«
Als er nach ihrem Gespräch aufstand, sagte er: »Wenn Sie mit Rosie sprechen, dann sagen Sie ihr, dass sie mich mal wieder besuchen soll. Wenigstens sie hat ihren alten Dad nicht im Stich gelassen.«
Der erste Schlag verfehlte sein Kinn und traf stattdessen seinen Hals. Der zweite landete in seiner Magengrube. Während er rückwärtstaumelte und abwehrend die Hände vors Gesicht hielt, fiel Alec Faraday auf, wie still es war. Zwar konnte er über sich am Himmel ein Flugzeug hören, und von der Hauptstraße zu seiner Rechten drang Verkehrslärm herüber – er bildete sich sogar ein, in der Ferne Radiomusik zu hören –, aber das einzige Geräusch, das die Männer von sich gaben, war ihr schweres Atmen, das jedes Mal fast wie ein Grunzen klang, wenn sie wieder einen Schlag landeten.
Sie waren zu fünft, und sie trugen Kapuzen. Einer hatte eine Sturmhaube auf. Faraday ging in die Knie und gleich darauf ganz zu Boden, wo er sich zu einer Kugel zusammenrollte, um möglichst wenig von ihren Schlägen abzubekommen und gleichzeitig sein Gesicht zu schützen. Er spürte, wie ein Stiefel in seine Rippen knallte. Ein zweiter traf ihn am Oberschenkel. Einer der Männer trat ihm ganz gemein in den Schritt. Irgendwo hörte er etwas krachen. Schmerz durchflutete ihn. Unter sich sah er einen Moment lang den frostigen Asphalt
glitzern, ehe er die Augen schloss. Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren. Begriffen sie denn nicht, dass der Tod für ihn eine Erlösung wäre?
Endlich sagte jemand etwas: »Verdammter Drecksack!«
»Pädophiler Scheißkerl.«
Jemand räusperte sich, und etwas Feuchtes landete auf seinem Hals. Dann folgte ein weiterer Schlag, den er aber gar nicht mehr richtig spürte. Als passierte das alles eigentlich einem anderen Mann. Er hörte Schritte, die sich entfernten.
Er hatte ein bisschen Kartoffelbrei mit Soße hinuntergeschluckt, weil er den Rest nicht mehr länger im Mund behalten konnte, nachdem er schon das meiste davon ausgespuckt hatte. Das Zeug war wie Kotze über den Boden verteilt. Außerdem lag da noch ein Hühnerbein, das bereits komisch roch. Ein paar Spaghettiringe hatte er auch gegessen, weil er weinen musste, sodass die Nudeln einfach hinunterrutschten, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Der ganze Raum roch nach verfaulendem Essen und nach seinem eigenen Körper. Er beugte den Kopf über seinen Arm und schnüffelte daran. Seine Haut roch säuerlich. Als er mit der Zunge darüberfuhr, stellte er fest, dass er gar nicht gut schmeckte.
Immerhin hatte er herausgefunden, dass er, wenn er sich auf seiner Matratze auf die Zehenspitzen stellte und den Kopf unter die steife Jalousie zwängte, durchs Fenster sehen konnte. Zumindest die untere Ecke. Sie war ganz verschmiert, und dann ließ sein Atem sie auch noch beschlagen. Wenn er die Stirn gegen das Glas legte, wurde seine Haut so kalt, dass es richtig wehtat. Er konnte den Himmel erkennen. Heute leuchtete er in einem harten Blau, das ihn blendete. Gegenüber war ein weißes, funkelndes Dach mit einer Taube darauf, die ihn anschaute. Wenn er sich anstrengte, konnte er sogar ein kleines Stück
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