Blauer Montag
der Tat gekommen«, räumte er ein. »Wie Sie sehr richtig festgestellt haben, handelt es sich um eine Möglichkeit. Aber Sie müssen zugeben, dass Sie interessiert sind.«
»Warum sagen Sie das?«, fragte Frieda. »Was wollen Sie jetzt von mir hören?«
»Ich hätte gern, dass Sie mit Rose Teale sprechen. Vielleicht kommen Sie anders an sie heran, als wir das können.«
»Was erwarten Sie sich davon?« Sie griff nach der Akte und blätterte sie noch einmal durch.
»Ist das nicht frustrierend?«, meinte Karlsson. »Jedes Mal, wenn ich die Aussage lese, wünsche ich mir, ich könnte in eine Zeitmaschine steigen und für eine Minute an jenen Punkt zurückkehren, oder wenigstens für fünf Sekunden. Dann könnte ich herausfinden, was damals wirklich passiert ist.«
Er lächelte säuerlich. »Erwachsene Polizisten sollten nicht solches Zeug daherreden.«
Frieda warf erneut einen Blick auf die Aussage: die Worte einer Neunjährigen, die über ihre kleine Schwester sprach. Sie hatte das Gefühl, auf eine Reise eingeladen zu werden. Sobald sie zugesagt hatte, gab es kein Zurück mehr. Hatte das Ganze überhaupt einen Sinn? Konnte sie tatsächlich etwas beisteuern? Nun ja, vielleicht. Und wenn diese Möglichkeit bestand, blieb ihr gar keine andere Wahl.
»Also gut«, sagte sie.
»Wirklich?«, freute sich Karlsson. »Das finde ich großartig.«
»Was ich dazu unbedingt brauche«, erklärte Frieda, »ist einer von diesen Polizeikünstlern, die Phantombilder anfertigen. Haben Sie so einen?«
Karlsson schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein«, antwortete er, »wir haben etwas viel Besseres.«
24
T om Garret war sichtlich begeistert, eine Fachfrau zu treffen, die wusste, wovon er sprach, wenn er sich über die neurologischen Aspekte der Gesichtserkennung ausließ.
»Das alte Prinzip des Phantombilds basierte auf der primitiven Vorstellung, dass wir Gesichter als eine Kombination von Einzelteilen wahrnehmen – blaue Augen, eine große Nase, buschige Augenbrauen, ein spitzes Kinn – und daher nur die entsprechenden Teile zusammenzusetzen brauchen, um ein Gesicht zu erhalten, das wir wiedererkennen. In Wirklichkeit aber nehmen wir Gesichter gar nicht auf diese Weise wahr. Was auch der Grund ist, warum Phantombilder immer so lächerlich aussehen.«
»Na ja, nicht richtig lächerlich«, wandte Karlsson ein.
»Dann eben komisch. Und in der Regel bringen sie auch nicht viel. Wie Ihnen sicher bekannt ist« – und damit wandte er sich eindeutig wieder an Frieda –, »spielt der Gyrus-fusiformis-Bereich des Gehirns bei der Gesichtswahrnehmung eine besonders wichtige Rolle. Wenn der betreffende Bereich geschädigt wird, ist der Patient nicht mehr in der Lage, Gesichter wiederzuerkennen – nicht einmal die seiner nächsten Angehörigen. Dieses Wissen haben wir uns zunutze gemacht, als wir unser Programm hier entwickelt haben, das auf einer ganzheitlichen Gesichtswahrnehmung basiert.«
»Hervorragend.«
Frieda lehnte sich noch näher zu Garrets Bildschirm hinüber.
Garret sprach weiter über evolutionäre Gesichtskombinationssysteme und genetische Algorithmen, bis Karlsson schließlich hüstelte und sie daran erinnerte, dass Rosalind Teale draußen
saß. »Ist es in Ordnung, wenn wir im Raum bleiben?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Frieda, »aber bitte überlassen Sie ansonsten alles mir.«
Obwohl Frieda die Akte gelesen und Fotos gesehen hatte, war sie schockiert über Rose Teales Aussehen. Man hätte meinen können, sie hätte erst am Vortag ein traumatisches Erlebnis gehabt, und nicht schon vor zwanzig Jahren. Hatte diese Frau denn keine Hilfe bekommen? Hatte man sich nicht um sie gekümmert? Rose blickte sich um. Sie sah zunächst zu Garret, der wie wild auf seine Tastatur eintippte und ihr keinerlei Beachtung schenkte, und dann Karlsson, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnte. Als Frieda vortrat und ihren Namen nannte, stellte Rose keine Fragen, sondern ließ sich einfach von ihr durch den Raum führen und auf einen Stuhl setzen. Frieda nahm ihr gegenüber Platz. Karlsson hatte gemeint, Rose würde sich vielleicht besser fühlen, wenn man ihr das Gefühl gab, gebraucht zu werden. Angesichts der passiven, gebrochen wirkenden Frau, die sie vor sich hatte, kamen Frieda da so ihre Zweifel.
»Ich habe alles versucht«, erklärte Rose. »Ich habe versucht, mich zu erinnern. Immer wieder bin ich das Ganze im Geist durchgegangen. Bis am Ende nichts mehr übrig war.«
»Ich weiß. Sie haben alles in Ihrer
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