Blauer Montag
seinen Mantel aus. Als er schließlich saß, zögerte Frieda einen Moment, dann fragte sie: »Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee?«
»Hätten Sie eventuell auch etwas Stärkeres?«
»Wein? Whisky?«
»Whisky, glaube ich. Heute ist so ein Abend.«
Frieda schenkte ihnen beiden je ein kleines Glas Whisky ein, fügte einen Schuss Wasser hinzu und ließ sich dann Karlsson gegenüber nieder. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Sie wirkte viel sanfter als sonst. In seiner momentanen Verfassung rührte ihn das so, dass ihm fast die Tränen kamen.
»Ich kann nur noch an den Jungen denken. Wenn ich aufstehe, gilt mein erster Gedanke ihm, und sobald ich mich ins Bett lege, träume ich von ihm. Ansonsten tue ich so, als wäre alles ganz normal. Wenn ich mit den Kollegen ins Pub gehe, reden wir das übliche Zeug, und ich höre die üblichen Worte aus meinem Mund kommen. Es ist schon erstaunlich, dass man es schafft herumzulaufen und so zu tun, als wäre alles ganz normal, obwohl dem gar nicht so ist. Beispielsweise telefoniere ich mit meinen Kindern, frage sie, wie ihr Tag war, und erzähle ihnen albernes, lustiges Zeug über meinen. Dabei habe ich die ganze Zeit nur ihn vor Augen. Obwohl er bestimmt längst tot ist. Zumindest hoffe ich das, denn wenn nicht… Was kann bestenfalls passieren? Dass wir seine Leiche finden und den Dreckskerl schnappen, der ihm das angetan hat. Das ist noch die beste Variante.«
»Ist es denn wirklich so hoffnungslos?«
»Selbst in zehn oder zwanzig Jahren werde ich immer noch der Bulle sein, der Matthew Faraday nicht retten konnte. Wenn ich eines Tages in Pension bin – wie der alte Detective, den ich kürzlich besucht habe, der damals für den Fall von Joanna Vine zuständig war –, werde ich in meinem Haus sitzen und über Matthew nachdenken. Ich werde mir immer noch das Gehirn zermartern, wie das alles gelaufen sein könnte, wo er wohl begraben liegt, wer es war und wo der Betreffende inzwischen ist.
Er ließ seinen Whisky im Glas kreisen, ehe er einen Schluck nahm. »Sie verbringen wahrscheinlich die Hälfte Ihrer Zeit mit Leuten, die schwer an der Last ihrer Schuldgefühle tragen, aber meiner Erfahrung nach empfinden die Leute längst nicht genug Schuldgefühle. Sie schämen sich, wenn sie erwischt werden, das ja, aber sie haben kein schlechtes Gewissen, wenn sie ungeschoren davonkommen. Auf der ganzen Welt gibt es Menschen, die schreckliche Dinge getan haben und trotzdem ein
rundherum zufriedenes Leben mit ihren Familien und Freunden führen.«
Er kippte seinen Whisky hinunter. Frieda schenkte ihm nach, ohne zu fragen. Sie selbst hatte ihr Glas noch gar nicht angerührt.
»Wenn es schon mir so geht«, fuhr er fort, »wie mag es dann erst den Eltern gehen?« Mit einer ungeduldigen Handbewegung lockerte er seine Krawatte. »Wird mich das nun mein Leben lang verfolgen?«
»Hatten Sie vorher noch nie einen solchen Fall?«
»Mit Morden, Selbstmorden und häuslicher Gewalt kenne ich mich aus. Da ist es schwer, sich den Glauben an das Gute im Menschen zu bewahren. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich geschieden bin und mein Herz gerade einer Frau ausschütte, die ich erst ein paarmal getroffen habe, und nicht meiner Ehefrau. Der Junge ist doch erst fünf, im selben Alter wie mein Jüngstes.«
»Es gibt kein Heilmittel gegen Ihre Gefühle«, erklärte Frieda. In dem Raum, in dem sie saßen, herrschte eine seltsame Stimmung, träumerisch und traurig.
»Ich weiß. Ich musste nur mal mit jemandem darüber reden. Bitte entschuldigen Sie.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.«
Mehr sagte sie dazu nicht. Während sie nachdenklich in ihr Glas blickte, betrachtete Karlsson sie. Er hatte das Gefühl, eine neue Seite an ihr entdeckt zu haben. Nach einer Weile bat er: »Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Keine Ahnung. Sind Sie Ärztin?«
»Ja. Wobei das keine zwingende Voraussetzung ist. Ich hatte mich auf Psychiatrie spezialisiert, bevor ich die praktische Ausbildung zu meinem eigentlichen Beruf machte. Es ist ein langer Prozess und eine strenge Disziplin. Ich habe eine Menge Buchstaben hinter meinem Namen.«
»Verstehe. Und behandeln Sie hauptsächlich Privatpatienten? Wie viele kommen pro Tag zu Ihnen? Was sind das für Leute? Warum machen Sie den Job? Können Sie damit tatsächlich etwas bewirken? Das sind so in etwa die Dinge, die mich interessieren.«
Frieda musste ein wenig lachen, ehe sie anfing, die Antworten auf seine Fragen
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