Blauer Montag
können sich immer noch verzeihen.«
Rose schaute sie an und schüttelte dann langsam den Kopf. In ihren Augen standen Tränen.
»Doch, das können Sie. Aber dazu brauchen Sie Hilfe. Wenn Sie wollen, sorge ich dafür, dass Sie für die Therapie nichts zu bezahlen brauchen. Natürlich müssten Sie Zeit investieren, so etwas geht nicht von heute auf morgen. Ihre Schwester ist tot. Sie müssen sich endlich von ihr verabschieden und sich ein eigenes Leben aufbauen.«
»Sie verfolgt mich«, flüsterte Rose.
»Ja?«
»Es ist, als wäre ich nie ohne sie. Sie ist stets an meiner Seite, wie ein kleiner Geist. Immer im selben Alter. Wir alle werden älter, aber sie bleibt ein kleines Mädchen. Sie war so ein ängstliches kleines Ding. So viele Sachen machten ihr Angst – das Meer, Spinnen, laute Geräusche, Kühe, die Dunkelheit, Feuerwerke, das Benutzen von Aufzügen, das Überqueren einer Straße. Nur im Schlaf sah sie nicht ängstlich aus. Wenn sie schlief, hatte sie immer die Handflächen aneinandergepresst, als würde sie beten, und schmiegte die Wange an die Hände. Wahrscheinlich hat sie tatsächlich immer beim Einschlafen gebetet und Gott angefleht, er möge die Monster von ihr fernhalten.«
Sie stieß ein kleines Lachen aus, verzog aber sofort schuldbewusst das Gesicht.
»Es ist völlig in Ordnung, über sie zu lachen. Genauso, wie es in Ordnung ist, sich an ihre Fehler und Macken zu erinnern.«
»Mein Vater sieht in ihr inzwischen eine Heilige, müssen Sie wissen. Oder einen Engel.«
»Das ist für Sie bestimmt nicht einfach.«
»Und meine Mutter erwähnt sie überhaupt nicht mehr.«
»Dann wird es höchste Zeit, dass Sie jemanden finden, mit dem Sie über sie sprechen können.«
»Ginge das denn auch bei Ihnen?«
Frieda zögerte. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Aus Sicht der Polizei bin ich in Ihren Fall involviert. Das würde vermutlich die Grenzen verwischen. Aber ich kann Ihnen jemand Guten empfehlen.«
»Danke.«
»Sie sind also einverstanden?«
»Ja.«
25
I n acht Tagen war der kürzeste Tag des Jahres. Die Klinik würde über die Feiertage ihre Pforten schließen und erst Anfang des neuen Jahres wieder aufmachen. Bis dahin mussten die Patienten ihre Probleme auf Eis legen. Wenn sie dann zurückkehrten, war vermutlich auch Reuben zurück, um sie willkommen zu heißen – vorausgesetzt, Frieda teilte Paz mit, dass er wieder einsatzfähig sei. Deswegen steuerte sie nun an einem Sonntagnachmittag auf sein Haus zu, angeblich, um ihm ein paar Aktenordner zu bringen, die er in seinem Behandlungsraum vergessen hatte. Allzu lange würde er ihr das allerdings nicht abkaufen. Schließlich hatte sie es immer noch mit Reuben zu tun – seinem kühlen, prüfenden Blick und seinem spöttischen Lächeln.
Bevor sie die Hand heben konnte, um zu klopfen, flog die Tür auf, und Josef stürmte heraus, beladen mit einem Berg zerbrochener Bretter. Er eilte an ihr vorbei auf den bereits überquellenden Container zu, der, wie sie erst jetzt registrierte, am Straßenrand stand. Nachdem er seine Last hineingeworfen hatte, rieb er sich den Staub von den Händen und kehrte zum Haus zurück.
»Was tun Sie denn hier? Heute ist Sonntag.«
»Sonntag, Montag, wer weiß denn schon, was für ein Wochentag gerade ist!«
»Ich weiß es, und Reuben weiß es auch. Hoffe ich zumindest.«
»Gehen Sie ruhig rein. Er liegt auf dem Küchenboden.«
Zögernd trat Frieda durch die Haustür. Nach ihrem letzten Besuch wusste sie nicht recht, was sie erwartete. Überrascht
schnappte sie nach Luft. Man merkte, dass Josef schon eine Weile dort arbeitete. Der Mief der Vernachlässigung war gewichen, und an seine Stelle war der beißende Geruch von Terpentin und Farbe getreten. Die vielen Flaschen, Dosen und verkrusteten Teller waren verschwunden, die Vorhänge zurückgezogen. Doch damit nicht genug: Die Diele wirkte frisch gestrichen, und die Küche wurde gerade abgebaut. Die alten Schränke hatten sie herausgerissen, und ein neuer Rahmen für eine in den Garten führende Tür war bereits eingebaut. Draußen auf dem schmalen Rasenstreifen qualmten die Überreste eines Feuers vor sich hin. Und tatsächlich lag da Reuben auf dem Küchenboden, halb unter einem neuen Porzellanspülbecken verborgen.
Frieda war so überrascht, dass sie ihn einen Moment lang mit offenem Mund anstarrte. Unter seinem schönen, etwas nach oben gerutschten Leinenhemd blitzte ein Stück Bauch hervor. Von seinem Kopf war nichts zu sehen.
»Bist das
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