Blaufeuer
höre dir zu«, sagt Janne und schnäuzt sich.
»Für mich ist es auch nicht leicht«, wiederholt Viktoria. »Immerhin muss ich damit fertig werden, dass ich einen Sohn verloren habe. Für eine Mutter ist das am schwersten. Niemand sonst kann das verstehen.«
»Ich finde, wir sollten nicht anfangen, unseren Schmerz gegeneinander aufzurechnen.« Janne wünscht, Viktoria möge zum Punkt kommen. Zumal es nicht schwer zu erraten ist, worauf sie hinaus will. Der hohe Ton in ihrem Ohr ist lauter geworden.
»Warum sprichst du es nicht endlich aus, Mama?«, fragt sie, nachdem Viktoria sich weitere zehn Minuten über die Dimensionen ihres Leidens ausgelassen hat, ohne auf den Grund ihrer bevorstehenden Abreise einzugehen. Zehn Minuten, in denen Janne abwechselnd auf die geöffnete Champagnerflasche neben den unbenutzten Gläsern und auf die digitale Zeitanzeige am Backofen gestarrt hat. Grüne Leuchtziffern, funkelndes Kristall: Fixsterne im fahlen Küchenlicht.
»Was soll ich aussprechen?«
»Dass du Papa verlassen willst. Das willst du doch, oder? Deswegen rechtfertigst du dich die ganze Zeit. Weil du drauf und dran bist, etwas zu tun, wovon du genau weißt, dass es erbärmlich ist. Also los, sprich es aus. Bringen wir es hinter uns.«
Viktoria holt aus und schlägt ihr ins Gesicht.
Janne sieht es kommen, aber sie rührt sich nicht. Sie ist wie erstarrt. Auch hinterher. Es ist die erste Ohrfeige ihres Lebens.
»Von dir lasse ich mir nicht vorwerfen, dass ich erbärmlich bin. Nicht von dir«, sagt Viktoria, als gäbe es an ihrer Erbärmlichkeit selbst ohnehin nichts mehr zu rütteln. »Wie kannst ausgerechnet du es wagen, über unsere Ehe zu urteilen, wo du viel zu feige bist,überhaupt eine feste Bindung einzugehen? Das lasse ich mir nicht bieten.«
»Und ich lasse mich nicht schlagen«, sagt Janne und steht auf. Ihre Wange kribbelt. Wie nach einem Spaziergang im Sturm, nur eben einseitig. Im Vorbeigehen will sie die Champagnerflasche und die Gläser von der Arbeitsplatte fegen. Erst in letzter Sekunde zieht sie ihren Arm zurück. Es kommt ihr billig vor. Außerdem muss sie an die Frau denken, die für sie saubermacht.
Janne geht ins Bad und lässt kaltes Wasser über ihre Wange laufen. Sie will nicht, dass man ihr die Ohrfeige am nächsten Tag ansieht.
Ihre Mutter ist ihr gefolgt. »Bitte entschuldige. Ich wollte dich nicht schlagen. Das war keine Absicht, es ist ...« Sie ringt um Worte.
»... einfach so passiert?«, hilft Janne nach, ohne den Kopf aus dem Waschbecken zu nehmen. »Dir ist die Hand ausgerutscht. Ich glaube, so lautet die Standardausrede.«
»Was soll ich denn sagen? Es ist nun mal passiert. Bitte, lass uns nicht im Streit auseinandergehen«, bettelt Viktoria.
Janne trocknet sich das Gesicht ab. »Wo willst du überhaupt hin?«
»Nach Sylt zu einer Freundin. Vielleicht schaue ich vorher bei Meinhard in Hamburg vorbei. Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll, ich muss mir erst darüber klar werden.«
»Na, dann viel Spaß dabei.«
»Janne, bitte. Lass uns einen versöhnlichen Abschluss finden. Für dich und Meinhard wird sich ohnehin nicht viel ändern. Ihr habt euer eigenes Leben, und das ist gut so.«
»Hast du noch mehr Floskeln auf Lager? Ich mache mir keine Sorgen um mich oder Meinhard, sondern um Papa. Schließlich ist er schwerkrank. Findest du nicht, dass es ein schlechter Zeitpunkt ist, ihn ausgerechnet jetzt im Stich zu lassen?«
Viktoria lächelt müde. »Dein Vater wird ohne mich zurechtkommen, da bin ich mir sicher. Soll doch eine seiner Geliebten die Pflege übernehmen, von mir kann er das nicht erwarten. Meine Opferbereitschaft ist erschöpft. Ich habe keine Kraft mehr.«
Unfähig, Mitleid für ihre Mutter zu empfinden, betrachtet Janne ihr gerötetes Gesicht im Spiegel.
»Tut es weh? Man sieht fast nichts mehr«, sagt Viktoria und streckt die Hand nach ihrer Tochter aus.
Janne weicht zurück. »Fass mich nicht an. Fass mich nie wieder an.«
Im Morgengrauen bricht Viktoria Flecker auf. Janne liegt im Bett und lauscht darauf, wie sie vor ihrer Abreise mit kleinen, schnellen Schritten durch das Haus hastet. Manchmal verstummt das Klappern ihrer Absätze auf dem Parkett für kurze Momente. Es klingt, als würde sie zum Abschied einen Blick in jedes Zimmer werfen. Vor Jannes Tür angelangt, ruft sie fragend ihren Namen.
»Bist du wach?« Sie klopft leise.
Die Klinke bewegt sich. Janne schließt die Augen.
»Ich fahre jetzt«, sagt Viktoria.
Janne antwortet
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