Blaufeuer
nicht, zu verletzt ist sie über die Ohrfeige und Viktorias Entschluss, zu gehen. Ihr ist bewusst, dass ihr eigentlich kein Urteil über die Trennung zusteht, die Ehe der Eltern ist nicht ihre Angelegenheit, doch ihr Herz hat trotzdem Partei ergriffen. Für ihren Vater. Kurz darauf wird der Geländewagen angelassen. Der Kies in der Einfahrt knirscht unter den anrollenden Reifen. Erst als das Motorengeräusch vollständig verklungen ist, macht Janne die Augen wieder auf. Es hat aufgehört zu regnen, aber der Himmel ist immer noch wolkenverhangen. Ihre Erkältungsbeschwerden sind nicht mehr so grimmig wie am Tag zuvor.
Janne fährt zur Werft. Im Vorzimmer ihres Büros trifft sie auf Frank Hagedorn. Der Kommissar hat sich von Frau Bremer Kaffee und Kekse servieren lassen. Die beiden erwecken den Eindruck, recht gut miteinander auszukommen. Vielleicht ist sie auch nur höflich.
»Wollen Sie zu mir?«
»Sie haben es erraten.«
Sie nimmt ihn mit in Eriks Büro. Wie erwartet geht es um Birger Harms. Die Polizei hat ihn auf die Fahndungsliste gesetzt, bislang ohne Ergebnis. Hagedorn lässt sich von Janne schildern, wie sie zusammen mit Gabi Bremer den Tresor geöffnet und den Verlust des Geldes bemerkt hat. Er befragt sie über Birger Harms' Spielervergangenheit, worauf sie wahrheitsgemäß angibt, darüber nur wenig zu wissen. Weder habe er mit ihr darüber geredet, noch habe sie persönlich je Grund zur Annahme gehabt, dass er der Spielsucht verfallen sei. Natürlich kenne sie die entsprechenden Gerüchte.
»Warum hat er bei Ihnen auf der Werft so schlecht verdient? Kaum mehr als eine Aufwandsentschädigung für einen Posten als leitender Konstrukteur - das ist doch nicht normal. Wieso hat er sich darauf eingelassen?«
»Das müssen Sie meinen Vater oder Birger Harms selbst fragen«, antwortet Janne.
»Glauben Sie, dass er der Unbekannte ist, der Sie verfolgt hat?«
Sie denkt daran, was Johnny über Birger gesagt hat, und zuckt mit den Schultern. Sie weiß in der Tat nicht, was sie glauben soll.
Ohne Eile trinkt der Kommissar seinen Kaffee aus. Im Gehen fragt er, ob sie am Abend die Polizeistreife bemerkt habe, was sie bejaht.
»Und haben Sie sich sicherer gefühlt?«
»Ein wenig«, gibt sie zu.
»Ich hörte, Ihre Mutter ist heute früh zu einer Reise aufgebrochen.«
»Da haben Sie richtig gehört.« »Und wohin, wenn ich fragen darf?« »Erst nach Hamburg, dann nach Sylt.« »Gab es Streit?« Janne schüttelt den Kopf.
Er glaubt ihr nicht und gibt sich keine Mühe, das zu verbergen. Sie ist froh, als er endlich weg ist.
Drei Kündigungen. Mehr sind nicht übrig geblieben. Ein Grund zu feiern, wie Gabi Bremer bemerkt, aber Janne lässt sie abblitzen. Sie tigert im Büro auf und ab. Dass es so einfach war, die Mitarbeiter zumindest vorübergehend wieder auf Linie zu bringen, hat Birgers mahnende Worte eindrucksvoll bestätigt: Es muss jemanden geben, der die Fäden in der Hand hält und das auch zeigt. Sie will dieser Jemand sein. Oder besser: werden. Sie muss neue Mitarbeiter gewinnen und eine Strategie entwerfen, wie es weitergehen soll. So wie es aussieht, braucht sie Hilfe, um die Lücke zu füllen, die Birger hinterlassen hat.
Nichts als Lücken, wohin sie auch blickt. Die Zeit drängt. Sie will sich auf die Arbeit in der Werft konzentrieren. Dafür muss sie zunächst diese andere Sache zum Abschluss bringen, bevor sie daran kaputtgeht - auf welche Weise auch immer. Die Sache mit dem Mord. Schließlich fällt ihr ein, wen sie noch nicht befragt hat.
Laut Auskunft einer Dame vom Kirchenbüro ist Pastorin Reemts beim Konfirmandenunterricht anzutreffen. Janne fährt zum Gemeindehaus, wo gerade ein Rudel Jugendlicher lärmend ins Freie drängt. Ein Junge rammt einem anderen seine Fahrradpumpe inden Magen und bricht darüber in kreischendes Gelächter aus. Einige lachen mit, andere wenden sich ab.
Janne hatte nie Konfirmandenunterricht. Die Termine kollidierten mit ihren Geigenstunden oder einem ihrer diversen Jugendorchesterprojekte. Es war wohl besser so.
Im Gemeindesaal ist Friederike Reemts damit beschäftigt, Stühle zu einem Kreis zusammenzurücken. Dabei summt sie vor sich hin. Ein feuchter Windstoß fegt Janne ins Gesicht. Sämtliche Fenster sind weit geöffnet. Die frische Luft ist versetzt mit einem Geruch nach Schweiß, Kaugummi und alten Socken.
»Achtung, Durchzug«, ruft die Pastorin, aber da ist die Tür Janne bereits aus der Hand geglitten und schlägt mit einem lauten Knall
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