Blaufeuer
Gesicht, die hellen Bartstoppeln, den schwarzen Leberfleck an seinem linken Nasenflügel, eine alte Narbe am Kinn. Sie riecht den Tee und den Weichspüler, mit dem sein Schlafanzug gewaschen wurde. Als sie nach einer Weile versucht, eine bequemere Sitzposition einzunehmen, schreckt er auf und öffnet die Augen.
»Nein«, ruft er. »Nein, nein, nein.« Er ballt die Hände zu Fäusten. Als junger Bursche hat er geboxt.
»Ich bin es, Papa.« Sie sagt mehrmals ihren Namen, erst leise, dann immer lauter, und schließlich klart sein Blick auf.
»Janne?«
»Ja. Du hast mich herbestellt.«
»Das weiß ich, zum Teufel.« Er hustet unterdrückt.
»Trink doch mal was.« Sie hält ihm den Tee hin, aber er lehnt ab, Wasser will er auch nicht.
Er räuspert sich lautstark. Es klingt wund. »Ich muss eingeschlafen sein.«
»Macht nichts.«
»Doch. Wir müssen reden, und wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.« Erneutes Husten. Er leckt sich die Lippen, die rissig sind wie nach einem Sonnenbrand, und gibt würgende Laute von sich.
Janne verzieht das Gesicht. »Trink endlich, oder ich hole einen Arzt.«
Nach zwei Gläsern Wasser geht es ihm besser, und er reibt sich mit der Bettdecke den Schweiß von der Stirn. »Scheiße, Janne. Richtig große Scheiße. Und ich alter Esel kapier es erst jetzt.«
»Wovon redest du? Was kapierst du erst jetzt?«
»Ich sollte sterben, nicht Erik. Ich war gemeint. Ich, nicht er. Verstehst du?«
»Nein.«
»Du weißt doch, dass normalerweise ich mich um die Austernzucht kümmere. Erik war nur zuständig, wenn ich auf Reisen war. Letzte Woche wollte ich raus ins Watt, weil es Probleme mit einer Boje gab, aber an dem Tag ist mir etwas dazwischengekommen, also habe ich Erik gebeten, für mich einzuspringen. Niemand wusste davon, wir haben das am Handy besprochen. Ich bin dann nach Bremen gefahren, um am Flughafen einen wichtigen Kunden zu treffen, und ...« Paul Flecker unterbricht sich. Er braucht eine Pause und noch mehr Wasser. Er will welches aus der Leitung, Janne holt es ihm.
In ihrer Bestürzung dreht sie den Wasserhahn zu weit auf, der Strahl spritzt aus dem Waschbecken in ihr Gesicht und auf den Pullover. »Das musst du unbedingt der Polizei erzählen«, sagt sie. »Papa, wieso ...?«
»Ich hatte es vergessen«, herrscht er sie an. »Vergessen, kannst du dir das vorstellen? Ich bin ein Schwachkopf. Seit Eriks Tod konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen, ach was, ich konnte überhaupt nicht mehr denken.«
Janne reicht ihm das Glas, und er trinkt. Wasser rinnt über sein Kinn, verfängt sich im Stoppelbart.
»Kein Wort zur Polizei«, sagt er, »bloß nicht.«
»Was soll das denn heißen?« Janne starrt ihren Vater an. »Hella sitzt womöglich unschuldig im Gefängnis und ...«
Er unterbricht sie abermals: »Vergiss die Bullen. Wir müssen selbst herausfinden, wer es war. Janne, versteh doch, jemand will mich fertigmachen.«
»Wie redest du eigentlich? Und wen, bitte, meinst du mit wir?«
»Dich und mich.«
Plötzlich ist er ein Fremder. Sie weiß nicht, liegt es an der Krankheit, der kranken Umgebung oder am Sonnengelb der Wände, das auch ohne Blumen zu blumig für ihn ist? Jedenfalls ist das nicht mehr der Mann, der sie aufgezogen hat, sondern eingänzlich Unbekannter, irgendeine Art von Ganove. Während sie noch nach Merkmalen ihres Vaters in dem fremden Gesicht sucht, geht eine Veränderung mit ihm vor: Er sackt in sich zusammen, ein flatternder Blick, ein Zucken der Gliedmaßen, der Organismus bäumt sich auf wie ein stotternder Motor.
»Es ist eng«, flüstert er. »So eng.«
»Was ist eng? Kriegst du keine Luft?«
Müsste da nicht ein Knopf sein, der Ärzte und Pfleger herbeiruft? Gehört ein Knopf nicht zur Standardausrüstung jedes Zimmers einer jeden Klinik? Janne sucht auf dem Nachtschrank, sie schlägt die Decke zurück, sieht, wie sich der Leib ihres Vaters gegen diese Enge stemmt, aber sie findet keinen Knopf und rennt aus dem Raum. Sie ruft um Hilfe. Ihre Stimme schrillt über den Flur. Als sie an sein Bett zurückkehrt, packt er ihre Hand so fest, dass sie einen kurzen Schrei ausstößt, nicht wegen des Schmerzes, sondern weil sie nicht damit gerechnet hat.
»Du bist meine Tochter, verstehst du, und du musst dich jetzt kümmern.« Er spricht lallend, und die Umklammerung wird schwächer. »Versprochen?«
»Ja. Versprochen.«
Er lässt los. Tränen laufen über seine Wangen. Auch dann noch, als sein Blick sich längst nach innen gekehrt hat und sie
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