Blaufeuer
nicht mehr allein sind. Männer und Frauen in Weiß spuken umher, verständigen sich im Stakkato: Atemstillstand. Reanimation, mit Herzmassage beginnen. Die Tochter muss raus. Jemand schiebt Janne aus dem Raum, und sie leistet keinen Widerstand.
Sie bleibt mitten auf dem Gang stehen und wartet. Worauf, weiß sie nicht, denn sie fühlt keine Hoffnung. Hin und wieder öffnet sich die Tür zum Zimmer ihres Vaters, und jemand kommt heraus, ohne sie zu beachten. Andere gehen hinein, alle haben es eilig, nur sie nicht. Sie fällt niemandem mit Fragen zur Last, sondernharrt einfach aus und hat bald jedes Zeitgefühl verloren. Meinhard und ihre Mutter nähern sich im Laufschritt. Viktorias Stiefel veranstalten einen Höllenlärm. »Janne, Kind, was machst du hier? Was ist passiert? Du weinst ja.«
Sie deutet zur Tür. »Papa ist da drin. Er stirbt.«
PAUL
Die Explosion, die unvermeidlich war, sprengt alle Dimensionen seiner Vorstellungskraft. Danach ist es dunkel. Schmerzen hat er keine. Nicht mehr. Er ist nahezu gefühllos, Wut, Angst und Trauer haben ihn aus ihrer Umklammerung entlassen, er empfindet allenfalls Verwunderung darüber, was mit ihm geschieht. Anfangs hält er sich für tot, doch dann mehren sich Anzeichen dafür, dass er sich weiterhin im Krankenhaus befindet. Mal ist es ein beißender Geruch, mal der Klang einer Stimme, die von fern zu ihm dringt und sich rasch im Nichts verliert, dann wieder ein Geräusch: das Summen einer Blutdruckmanschette oder ein hohes Alarmsignal, welches hektische Betriebsamkeit auslöst, von ihm als Windzug wahrgenommen.
Meistens allerdings treibt er losgelöst durch Raum und Zeit, und wenngleich er keine Ahnung hat, ob und wie seine Uhr weiterläuft, weiß er eines bestimmt: Er ist mit sich allein. Die Einsamkeit ist weder eine Bedrohung noch eine Gnade, sie ist schlicht eine Gegebenheit. Es ist, als wäre er auf dem Grund eines Ozeans an der tiefsten Stelle angekommen, weit entfernt von der Reichweite des Tageslichts. Hier gibt es nichts, was ihn beengt. Das Schiff ist gesunken, der Kapitän entmachtet. Aber wie es scheint, ist der Lotse noch an Bord.
Butterland
JANNE
Zunächst hören sie nur, was sie hören wollen: Er lebt. Das zählt, sonst nichts. Sie fallen sich in die Arme und lachen. Er lebt, sein Herz schlägt weiter, er ist nicht gestorben, hat sie nicht im Stich gelassen. Sie bedanken sich bei den Ärzten, die ihren Dank kaum ertragen, weil ihre Kunst Paul Flecker nicht zurück ins Leben, sondern an einen fernen Ort namens Koma befördert hat. Er braucht Erholung, denkt Janne, er kommt bestimmt zurück. Meinhard wird als Erster wieder ernst.
Die Geschwister ziehen sich Kaffee aus einem Automaten im Treppenhaus, und während sie daran nippen und die Hände an den Plastikbechern wärmen, obwohl es nicht kalt ist, fasst Meinhard für sie zusammen, was mit Paul Flecker geschehen ist. Der erste Schlaganfall hat einen zweiten verursacht, weil im bereits betroffenen Abschnitt des Gehirns, dem Infarktgebiet, eine Blutung entstanden ist - mit fatalen Folgen. Sein Herz schlägt, aber das ist so ziemlich alles. Im Augenblick kann er nicht einmal selbständig atmen. Er ist weiterhin in Lebensgefahr. Falls er die Krise übersteht, wird er ein anderer sein.
»Er kommt also nicht mehr in Ordnung?«, fragt Janne, die es nicht wahrhaben will.
Ihr Bruder schüttelt den Kopf. »Nein, sicher nicht. Manchmal können andere Gehirnregionen die Funktionen der abgestorbenen Nervenzellen übernehmen, aber da weite Teile des Organs betroffen sind ...«
»Er ist gescheiter als andere«, entgegnet Janne, »vielleicht ist sein Gehirn besser in der Lage, sich anzupassen.«
Eine Gruppe Pfleger geht vorbei. Als sie einen Teil ihrer Worte aufschnappen, tauschen sie Blicke aus, die entweder Mitleid oder Verachtung widerspiegeln, was letztlich auf dasselbe hinausläuft. Janne hat sich am Kaffee die Zunge verbrannt.
»Das hat doch damit nichts zu tun. Und das weißt du genau«, sagt Meinhard.
Sie reden nicht weiter. Neben ihnen summt der Automat. Sie trinken den Kaffee, der ölig glänzt. Dafür schmeckt er nicht schlecht.
Obwohl die Prognosen düster erscheinen, sind sie anfangs bereit, an ein Wunder zu glauben. Sie denken, es stehe ihnen gewissermaßen zu, dass nach all dem Leid etwas passiert, was Hoffnung schürt. Tag und Nacht wachen sie an Paul Fleckers Bett, das jetzt wieder auf der Intensivstation steht. Sie wechseln sich ab, damit er nicht allein ist, wenn er
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