Blaufeuer
Paul Flecker,der stets darauf gedrängt hat, dass sie den Kontakt nicht völlig abbricht.
Janne betritt die Seniorenresidenz. Es ist eines der besseren Häuser, eines, in das sich die Bewohner frühzeitig einkaufen mussten, um es im Alter bequem zu haben. Die Senioren erwarten den Tod in feinster Garderobe, auf plüschige Sitzecken verteilt. Leise Klaviermusik: Chopin, weichgespült. An den Wänden dezente Kunst.
Der Besuch fällt Janne nicht leicht, aber sie weiß nicht, wen sie sonst fragen sollte. Viktoria scheidet aus, ihre Nerven liegen blank. Sonst ist niemand mehr da.
Janne klopft an die Tür des Apartments, zunächst zaghaft, dann entschlossen. Obwohl keine Antwort kommt, tritt sie ein. »Hallo?« Sie schaut sich um und erschrickt. Edna Kaldewey liegt bäuchlings auf dem Fußboden, und sie trägt wieder oder immer noch das fusselige fliederfarbene Strickkleid, das Janne von früheren Besuchen kennt. Sie will gerade um Hilfe rufen, da regt sich ihre Großmutter.
»Ist da jemand?«
»Ja, ich bin es. Janne. Brauchst du Hilfe?«
»Ja bitte. Könnten Sie Elvis einfangen? Er ist ausgebüxt, und ich fürchte, er könnte ein Kabel anfressen und einen elektrischen Schlag bekommen.«
Janne registriert die Taschenlampe in der Hand ihrer Großmutter. Der Lichtstrahl zeigt unter das Sofa. Wunschgemäß lässt Janne sich neben der alten Dame auf dem Boden nieder und entdeckt zwischen Staubbüscheln ein ziemlich dickes Kaninchen mit Schlappohren. Elvis hat Starallüren. Er zerkratzt ihr die Hände.
»Er mag nicht jeden«, sagt Edna Kaldewey, nachdem Janne ihr das Kaninchen überreicht hat.
Sie beäugen einander. Ihre Großmutter ist früh ergraut, deswegenkommt sie Janne kaum älter vor als damals. Sie ist nicht hässlich, aber sie sieht aus wie eine Frau, die seit langem keinen Wert mehr auf Äußerlichkeiten legt. Ihr Mann ist jung an Lungenkrebs gestorben. Er war ein fröhlicher Mensch, und Janne hat ihn gern gemocht.
»Muss ich Sie kennen?«
»Ich bin deine Enkelin«, sagt Janne, auch wenn sie ziemlich sicher ist, dass ihre Großmutter weiß, wen sie vor sich hat.
»Als wir uns zuletzt gesehen haben, warst du noch auf der Universität und hattest Haare bis zu den Hüften, Janne Flecker.«
Janne geht nicht darauf ein. Sie hat keine Zeit, Abbitte für ihre seltenen Besuche zu leisten. »Wie kommst du zu dem Kaninchen?«
»Die Zoohandlung von nebenan hat ausgemustert. Elvis war denen zu alt. Traurig ist das alles.«
»Ich wusste gar nicht, dass du den King verehrst«, erwidert Janne, um einen munteren Tonfall bemüht.
»Du weißt vieles nicht.« Edna setzt sich aufs Sofa.
Janne bleibt stehen. Eine bessere Vorlage wird es nicht geben. »Genau deswegen bin ich heute hier. Wegen der Dinge, von denen ich nichts weiß.«
Edna winkt ab. »Hör bloß auf. Die Vergangenheit heraufbeschwören, das führt doch zu nichts. Den Weg hättest du dir sparen können.«
Janne spielt auf Zeit. Sie unterhalten sich über das Wetter und über Kaninchen, was ihr immerhin die Einladung zu einem Glas Sherry beschert. Nach dem zweiten Glas wird ihre Großmutter weinerlich und beklagt sich darüber, wie viel Unglück ihrer Familie widerfahren sei. »Mehr als ein einzelner Mensch verkraften kann.«
Janne unterdrückt ein Gähnen. Erst das Bier, jetzt noch der süße Sherry. Ihr Mund ist klebrig. Und all die Mühe bleibt vergebens.Edna Kaldewey redet viel, doch sobald Janne anfängt, Fragen über die Vergangenheit zu stellen, schweigt sie sich beharrlich aus. Auch eine Antwort.
Zwei vergeudete Tage später. Janne dachte, sie sei vorbereitet. In Gedanken hat sie den Weg etliche Male zurückgelegt. Als sie jedoch zum ersten Mal die Flecker-Werft als Firmenchefin betritt, kommt ihr das weitläufige Gelände wie ein fremder Planet vor. Dunkelbraune Nissenhütten, Hallen, die an Flughangars erinnern, und ein flacher Zweckbau als Verwaltungsgebäude - das ist die Welt, die sie gegen den barocken Prunk der Deutschen Philharmonie eingetauscht hat. Auch die Geräuschkulisse ist abschreckend: das Stampfen der gigantischen Hydraulikpresse, das Heulen von Kreissägen, Hammerschläge.
Janne muss feststellen, dass ihre Feigheit alle Ambitionen überflügelt: Sie hat sich vorgenommen, einen imponierenden Auftritt hinzulegen, mit angemessener Haltung Büros und Produktionsstätten abzuschreiten, bekannte Mitarbeiter per Handschlag zu begrüßen, um schließlich vor versammelter Belegschaft einige kurze Sätze zur Begrüßung zu sprechen.
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