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Blaufeuer

Titel: Blaufeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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nicht.«
    »Dann lass es eben bleiben. Ist sowieso Schnee von gestern. Henrika ist tot, Oskar ist tot, und Paul Flecker soll ja auch aus dem letzten Loch pfeifen, wie ich gehört habe.«
    »Oma, bist du ganz sicher, dass nicht Oskar Sayer, sondern Paul Flecker mein Vater ist? Hat Mama es dir erzählt?«
    Edna hebt die Hände. »O nein, Henrika hat nie darüber gesprochen. Aber ich weiß es trotzdem. Sie und Paul sind nie voneinander losgekommen. Tja, so ist er eben, unser Paulchen: nimmer satt, nicht wahr, Elvis, mein Schatz? Janne, noch einen Korn?«
    Doch Janne hat genug.
    Genug getrunken und genug gehört.
     
    Auf dem Weg zurück in die Stadt fährt Janne viel zu schnell und ist kaum fähig, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Sie sieht aus dem Fenster. Kühe im Abendrot. Einzelne Gehöfte, weites, sattgrünes Land. Nordwestlich der Straße verläuft der Elbdeich. Die Elbe-Weser-Region heißt bei den Einheimischen »nasses Dreieck«, weil das Wasser nicht nur rund ums Jahr beständig vom Himmel fällt, sondern auch in den fruchtbaren Marschböden gespeichert ist, die im Lauf der Jahrhunderte dem Meer abgetrotzt wurden. Wasser ist der Souverän in dieser Gegend, ein launischer Fürst. Jedes Kind lernt früh, es zu fürchten, auch Erik und sie sind mit Schauergeschichten von Deichbrüchen und Sturmfluten aufgewachsen. Hier unter diesem freien Himmel liegen ihre Wurzeln. Wenigstens das ist unstrittig.
    Die Bundesstraße ist gefährlich, weil viele zu schnell fahren, andere zu langsam. Ein Unfallschwerpunkt. Auch Janne überholt riskant, denn je länger sie unterwegs ist, desto größer wird ihre Wut. Ihr wird schlecht davon. So viele Lügen. Sie denkt an Oskar Sayer, den jungen, hochbegabten Cellisten, vom Feuilleton gefeiert, vom Publikum hofiert, der viel zu früh starb. Obwohl sie keine Erinnerungen an ihn hat, schien eines immer gewiss: Sein Talent hat sich auf sie übertragen, nur durch ihn konnte sie werden, was sie ist.
    Eine rührende Geschichte, leider nichts anderes als ein Märchen. Sie ist nicht verwandt mit Oskar Sayer, dem Sohn eines Engländers und einer Helgoländerin. Sie ist die Tochter eines aus dem letzten Loch pfeifenden Feiglings und Ehebrechers, den sie ihr Leben lang geliebt hat, ohne ihn wirklich zu kennen. Ihre Fingernägel bohren sich ins Lenkrad.
    Als am Abend der Zorn endlich abklingt, packt Janne den Koffer aus, den Nils aus Berlin mitgebracht hat. Ein fremder Geruch schlägt ihr entgegen: Zigarettenrauch und irgendetwas anderes. Alles Vertraute löst sich in Luft auf. Was wird als Nächstes verschwinden, ihre Hände vielleicht oder ihr Gesicht? Ihre Identität ist Butterland, eine durch Nebel erzeugte Erscheinung, eine Illusion von Land mitten im Ozean. Sie fühlt sich krank, als würde sie eine Grippe bekommen.
    Zittrig öffnet Janne den Geigenkoffer - und ist endlich zu Hause. Geigenduft. Ein ätherisches Gemisch aus verschiedenen Hölzern, Lack, Parfüm und Kolofonium, einem krümeligen Hartwachs zur Pflege des Rosshaares am Bogen. Der glänzende Geigenlack enthält Zutaten wie Weihrauch und Safran. Pures Glück.
    Janne atmet tief durch. Das Parfüm benutzt sie, um die Saiten sauber und geschmeidig zu halten. Sie spannt den Bogen und befreit das Instrument vom schützenden Seidentuch. Sie streicht mit den Fingern über das fein gemaserte Holz, bevor sie die Geige ansetzt. Der Korpus ist aus Fichte. Wirbel, Saitenhalter und Griffbrett wurden aus Palisanderholz geformt, was selten ist. Die Geige stammt aus der Meisterschule von Cremona, ein Erbstück von Oskar Sayer, der als Geiger begonnen hat, bevor er das Cello für sich entdeckte. Egal.
    Janne spielt, und die Geige nimmt ihr alles von der Seele. Die Geige schreit, sie weint und sie schmollt. Die Geige hadert mit dem Schicksal und sie bettelt um Glück. Sie sehnt sich. Janne spielt Vivaldi, und die Geige ist der Sommer, der ihr den Bruder geraubt hat, und der Herbst, der nicht kommen will. Janne spielt Wagner, und die Geige ist die Flut. Die den Tod bringt. Es gibt keinen Zweifel, wer sie ist. Sie ist kein Mensch ohne Identität. Sie ist Musik.
    Stille. Janne spürt den Klängen nach, bis das Ticken einer Armbanduhr ihr verrät, dass sie nicht mehr allein ist. Sie wirbelt herum und sieht ihre Mutter am Fenster stehen, den Blick aufs nachtschwarze Meer gerichtet.
    »Entschuldige, ich wollte nicht stören«, sagt sie. »So habe ich dich seit Ewigkeiten nicht spielen hören. Das war überragend.«
    »Danke.« Janne räuspert sich.

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