Blaufeuer
sofort ausgestiegen,wie immer. Als sie schwanger wurde, wollte sie Viktoria alles erzählen, die ihn angesichts eines derartigen Skandals mit Sicherheit zum Teufel gejagt hätte. Das Drama wollte er sich gern ersparen. Andererseits gäbe es ohne diesen Fehltritt seine Tochter nicht, und so ist vielleicht doch alles der Bestimmung des Schicksals gefolgt. Er hat es ja geregelt bekommen. Er mag moralisch flexibel sein, aber er ist bestimmt kein schlechter Mensch.
Birger Harms
JANNE
Kaffeepause in der Flecker-Werft. Eigentlich besteht Jannes gesamter Arbeitstag - es ist der dritte in Folge - aus nichts anderem. Eine bewährte Möglichkeit, so zu tun, als gehörte man dazu und wüsste, was zu tun ist. Die Kaffeemaschine ist abgeschaltet, die Kanne leer und Gabi Bremer nirgends zu sehen. Seufzend sucht Janne in der Küche nach Filterpapier, füllt Pulver und Wasser ein und drückt zuletzt den Stecker in die Dose.
Der Stromschlag ist kein Schlag als solcher, eher ein Kribbeln, das durch ihren Körper strömt und sich dabei steigert. Sie empfindet es nicht als unangenehm, obwohl es sie irritiert, dass sie ihre Hand nicht vom Stecker lösen kann. Das Gerät spinnt, denkt sie und registriert einen verbrannten Geruch. Dann wird es schwarz um sie herum, und auch das fühlt sich keineswegs schlecht an.
Friedvolle Augenblicke verstreichen, in denen das Kribbeln abklingt und nur Wärme zurückbleibt. Sie wird wach, weil jemand sie links und rechts mit Backpfeifen traktiert und dabei ihren Namen ruft. Gabi Bremer. Janne bewegt langsam Arme und Beine. Sie liegt auf dem Boden, neben ihr kniet die Sekretärin, die ihr mit einem roten Schnellhefter Luft zufächelt. Aufihrer Oberlippe glitzern Schweißperlen. Janne muss lachen, was unbemerkt bleibt, da aus ihrem Mund nur ein heiseres Krächzen kommt.
»Mit der Kaffeemaschine stimmt etwas nicht«, bringt sie nach mehreren Sprechversuchen mühsam heraus.
Gabi Bremer nickt und tätschelt Janne die Schulter. »Schrecklich ist das. Es hat eine richtige Verpuffung gegeben. Lebensgefährlich. Ein Krankenwagen ist unterwegs.« Sie zieht eine komische Grimasse, erleichtert und betreten zugleich, denn eigentlich müsste sie sich jetzt an Jannes Stelle befinden.
»Ich brauche keinen Arzt und einen Krankenwagen schon gar nicht«, sagt Janne und bekommt langsam das Gefühl, man kann sie wieder verstehen. Sie rappelt sich auf. Zwar ist sie ein bisschen schwach auf den Beinen, aber sie kann stehen.
»Seien Sie vernünftig, Frau Flecker. Mit Strom ist nicht zu spaßen. Lassen Sie sich wenigstens untersuchen.« Gabi Bremer fuhrwerkt noch immer mit dem roten Schnellhefter herum, nur dass sie sich mittlerweile selbst Luft zuwedelt.
Janne bricht erneut in Lachen aus, diesmal ist es klar als solches zu erkennen. Es klingt hysterischer, als sie sich fühlt. »Nein, danke.« Sie bewegt sich vorsichtig in Richtung Tür. Das Kribbeln meldet sich zurück, diesmal fühlt es sich an wie ein leichter Schmerz. Im Treppenhaus kommen ihr zwei Rettungssanitäter entgegen. Genervt macht sie kehrt und hastet an Gabi Bremer vorbei zu einem anderen Ausgang, der in die Werkshalle führt.
»Halten Sie das Mädchen auf«, hört sie die Sekretärin rufen.
Janne zuckt zusammen. Das Mädchen. Genau das ist sie für Frau Bremer und den Rest der Belegschaft. Was hat das Mädchen hier zu suchen, werden sich Arbeiter in diesem Moment fragen, als sie die Fertigungshalle betritt und an zwei skelettartigen Bootsrümpfen vorbeihuscht. Recht haben sie: Was hat das Mädchen hier zu suchen? Funny Girl.
Nachdem Janne die Besatzung des Rettungswagens abgewimmelt hat, steht die erste offizielle Besprechung an. Außer ihr nehmen zwei Konstrukteure, der Werksleiter und sein zweiter Mann sowie Gabi Bremer als Protokollantin teil. Begrüßungsfloskeln machen die Runde. Die Mitarbeiter sind skeptisch und geben sich keine Mühe, dies zu verbergen. Die Luft im Konferenzzimmer steht still, obwohl die Fenster geöffnet sind. Es ist ein sonniger Tag im Oktober. Verschwitzte Gesichter, Sorgenfalten. Janne an der Stirnseite des langen Tischs aus Tropenholz fühlt sich wie eine Hochstaplerin.
Ziel der Zusammenkunft ist es, sie über die laufenden Geschäfte zu informieren. Acht Luxus-Segelyachten in Größen zwischen dreiundvierzig und achtundsiebzig Fuß sind im Bau, ein hundertzweiundfünfzig Fuß langes Schiff wurde im Sommer ausgeliefert. Die Werft setzt auf Leichtbauweise, was den Vorteil hat, dass die Boote widerstandsärmer und
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