Blaufeuer
»Es hat gutgetan. Das Spielen, meine ich.«
Viktoria lacht leise. »Ich habe schon verstanden. Aus Lob hast du dir nie viel gemacht, wenn es nicht gerade aus dem Munde deines Vaters kam.«
»War ich so fixiert auf ihn?«
»Waren wir das nicht alle?«
Sorgfältig verstaut Janne die Geige im Kasten. Sie wird nicht schlau aus ihrer Mutter, ihre Stimme klingt wie gezuckert.
»Sag mal, wusstest du, dass Papa und Henrika ein Paar waren, bevor ihr geheiratet habt?«
»Ja, das wusste ich. Wieso?«
»Hat es dich nicht gestört?«
»Nein, das war ja lange vor unserer Ehe. Die beiden waren getrennt, als Paul und ich zusammenkamen.«
»Und du fandest es auch okay, dass dein Mann Taufpate für das Kind einer Exfreundin wurde?«
»Vollkommen. Schließlich waren die Sayers sehr gute Freunde von uns. Janne, worauf willst du eigentlich hinaus?«
Ihre Ahnungslosigkeit wirkt überzeugend, aber Janne bleibt misstrauisch. »Können wir uns in Ruhe über Papa unterhalten?«
»Das tun wir doch die ganze Zeit.« Viktoria wird ungeduldig. »Was sollte das bringen?«
»Ich versuche, das Bild, das ich von Papa habe, zu korrigieren.«
»Jetzt, wo er im Koma liegt? Wozu?« »Besser spät als nie.«
Früh am nächsten Morgen sitzt Janne wieder an Paul Fleckers Bett im Krankenhaus. Die Schwellung in seinem Kopf ist von allein zurückgegangen, der Hirndruck gesunken. Janne hingegen hat das Gefühl, ihr platzt der Schädel. Diesmal hat sie sich nicht schön gemacht für ihn, und sie ist auch nicht gekommen, um ihm Mut zuzusprechen. Sie will ihn zur Rede stellen, auch wenn er nicht antwortet. Er soll ihre Wut spüren, so einfach kommt er ihr nicht davon. Verzieht sich ins Koma, der Lügner.
Als sie loslegt, zucken seine Wimpern, aber die Augen bleiben geschlossen. Er regt sich nicht, nur der Brustkorb hebt und senkt sich in dem Rhythmus, den das Beatmungsgerät vorgibt. Sein Gesicht sieht friedlich aus.
PAUL
Über dem Meer ist heller Tag. Er schwimmt dicht unter der Wasseroberfläche und fühlt die wärmenden Sonnenstrahlen auf dem Rücken, während das kühle, glatte Nass ihn umschmeichelt, sich an ihn schmiegt. Er erwidert die Zärtlichkeit, indem er sich dem Element ohne Furcht hingibt und die See sanft durch seine Hände gleiten lässt. Ein Akt der Versöhnung, denn es ist seit jeher eine Art Hassliebe, die ihn mit dem Meer verbindet.
Als es dunkel wird, fällt Regen. Das Rauschen der Tropfen, die sich mit dem Meer vereinen, wird zum Wispern. Jemand spricht mit ihm, jemand an Land. Er spürt, dass sich im Gewirr der Worte eine wichtige Botschaft verbirgt, und er weiß, die Stimme bedeutet ihm etwas. Eine zornige Stimme. Auftauchenkann er nicht, denn er existiert nur in der Schwerelosigkeit, und sobald er das Wasser verließe, würde sich der Tod ihn schnappen. Trotzdem wagt er eine Annäherung, und der Lohn für seinen Mut ist der Name einer Frau: Henrika. Henrika Kaldewey, 1943 in Breslau geboren. Gott, war die schön. Eine Stimme wie ein Engel.
Mit der Liebe ist es eine vertrackte Angelegenheit, er hat viele Frauen geliebt, jede auf ihre Weise. Und er war zweifelsohne jeder auf seine Weise treu, was nicht immer auf Verständnis stieß. Trotzdem würde er den wenigen, mit denen es im Streit auseinanderging, nicht zustimmen, wenn sie heute über ihn sagen, er habe sich schäbig verhalten. Unter Umständen hat er manchmal gewisse Erwartungen enttäuscht, aber er war so ehrlich wie möglich und hat nie etwas bewusst gesagt oder getan, um falsche Erwartungen zu wecken. Seine Ehe stand nie zur Diskussion.
Er ist nun mal ein Mann, und er bereut nichts, auch nicht, dass er anstelle seiner Jugendliebe die Kapitänstochter Viktoria Conradi geheiratet hat. Sicher hat er Henrika vermisst und sich oft in ihren ersten gemeinsamen Winter zurückgeträumt. Aber in Viktoria fand er eine Gefährtin, die bereit war, ihr Leben auf seines abzustimmen, ohne dass es ein Opfer bedeutete, sie wollte es so. Und Viktoria und er haben ebenfalls einige denkwürdige Nummern im Schnee hingelegt - so ist es nicht.
Verwerflich war allerdings, dass er aus Sentimentalität und um Henrika nicht aus den Augen zu verlieren, einen Vorsatz über den Haufen geworfen hat, der ihm später zur eisernen Regel werden sollte: keine Freundschaft nach einer Trennung. So etwas funktioniert nicht. Nie. Ein einziger Augenblick der Schwäche, ein lausiges Gerammel im Auto hätten ihn fast Kopf und Kragen gekostet.
Der Regen war schuld, sonst wäre Henrika
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