Blaufeuer
Eriks Büro zurückkehren will, mischt sie sich unter die wenigen Passanten, die im Sog der Langeweile treiben. Seit sie vor zehn Jahren von hier fortgegangen ist, hat die Hafenstadt ihr Gesicht verändert: Alteingesessene Kaufleute befinden sich wie vielerorts auf dem Rückzug. Am Ende bleiben nur Leerstände, Billigläden und Filialen großer Handelsketten mit ihrem immergleichen Plunder. Janne lässt sich von der allgemeinen Lethargie anstecken und sinkt auf den nächsten freien Platz vor einem Eiscafe. Als die Kellnerin, die ihr nicht bekannt vorkommt, sie mit ihrem Namen anspricht, sich als Claudia aus der Grundschulklasse vorstellt und anfängt, von Eriks Tod zu reden, weiß sie, was sie nicht will: hier sterben.
Zu Hause in ihrem Zimmer trifft Janne am frühen Abend auf Meinhard. Die Begrüßung ist herzlich. Sie ist heilfroh, ihn zu sehen. Er hat sich umgehend auf den Weg nach Cuxhaven gemacht, nachdem er die Mailbox abgehört hatte, und es ist ihm gelungen, ihrer Mutter den Auftritt in der Talkshow auszureden, was Janne mit Erleichterung aufnimmt.
»Wo hast du gesteckt?«, fragt er später. »Ich wollte dich im Büro erreichen, aber Frau Bremer meinte, du seist verschwunden, ohne ein Wort zu sagen.«
»Unloyales Weibsbild. Hoffentlich erzählt sie das nicht auch den Kunden. Ich war bei der Polizei.«
Meinhard runzelt die Stirn. »Warum das denn?«
»Ach, hat sich erledigt. Wusstest du, dass Hella den Mord gestanden hat?«
»Ja, Mama hat es mir vorhin erzählt. Sie hat es von diesem Hamburger Anwalt.«
Janne beginnt die Geige samt Noten in einem Rucksack zu verstauen. Meinhard sieht ihr dabei zu und hantiert gedankenverloren mit einem Kugelschreiber, der auf ihrem Schreibtisch lag.
»Was hältst du von Hellas Geständnis?«, fragt Janne. »Was soll ich davon halten?«
»Empfindest du auf irgendeine Weise Triumph oder Genugtuung?«
»Nein. Du?«
»Überhaupt nicht. Obwohl ich mir im ersten Moment aufrichtig gewünscht habe, dass Hella die Schuldige sein möge. Einfach weil ich sie nie leiden konnte«, antwortet sie.
Die Kugelschreibermine schnellt vor und zurück. »Mir ging es ähnlich. Trotzdem habe ich jetzt ein schales Gefühl.«
»Glaubst du, sie war es?«
»Hätte sie sonst gestanden?«, fragt Meinhard zurück. »Ich sag dir was - ich werde der Polizei mal ein wenig auf den Zahn fühlen. Um sicherzugehen, dass die Typen ihre Arbeit ordentlich machen. Aber eines ist klar: Wenn Hella es war, hat sie auch noch unseren Vater auf dem Gewissen.«
»Jetzt klingst du schon so wie Mama. Ausgerechnet du als Arzt. Du hast doch gehört, was sie gesagt haben: Der Schlaganfall war Folge seines Lebenswandels. Es hätte ihn früher oder später sowieso erwischt.«
»Psychologische Faktoren spielen auch eine Rolle. Mit dem Mord an Erik hat er nicht nur sein liebstes Kind verloren, er sah plötzlich auch sein Lebenswerk den Bach runtergehen.«
Janne fixiert ihren Bruder kopfschüttelnd. »Liebstes Kind? Was redest du da? Papa hat Erik nie bevorzugt.«
»Ich rede nicht von Bevorzugung. Ich rede von Liebe.«
Kurz darauf radelt Janne abermals hinaus zu Birger Harms, wo sie die gleiche Szenerie wie am Vorabend erwartet: schreiende Vögel, auffrischender Wind und das Naturschauspiel der hereinbrechenden Dunkelheit über der Nordsee. Ablaufendes Wasser. Mehr noch als sonst empfindetjanne die Wüste aus Schlick, Sandund Ton als lebendiges Wesen, das atmet, fühlt und immer in Bewegung ist. Sie weiß, das Wattenmeer ist nach dem Regenwald das zweitproduktivste Ökosystem der Welt. Seine Organismen - Würmer, Kieselalgen, Schnecken, Muscheln und anderes Getier - vereinen sich zu einer einzigen unbeugsamen Kreatur, die dem Menschen zugleich ausgeliefert und überlegen ist.
Der Alte wirkt erfreut, sie zu sehen, und bietet ihr einen Köm an. Janne lehnt dankend ab. Vergebens wartet sie auf Tee und Schwarzbrot.
»Du wolltest doch bestimmt vorspielen. Bitte, fang an.« Ihre Hände sind feucht und kalt, als sie die Saiten stimmt. »Phantastisch, diese Quarten«, versucht Birger Harms aufzutrumpfen.
»Es sind Quinten«, verbessert Janne und blättert in ihren Noten. Sie will unbedingt etwas Virtuoses spielen, das ihn sofort so sehr beeindruckt, dass er sich auf seinen Teil der Abmachung besinnt. Schließlich entscheidet sie sich für eine Sonate von Pa-ganini. Ein ausgesprochen schwieriges Stück: schnelles Tempo, zahlreiche Doppelgriffe, hohe Lagen und eine unkomfortable Tonart. Janne kann es auswendig,
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