Blaufeuer
seit sie damit als Elfjährige an einem Wettbewerb teilnahm und den ersten Platz errang.
Janne spielt, undPaganinis teuflische Kadenzen züngeln durch den kleinen Raum, der kaum genug Platz bietet für dieses Feuerwerk aus Tönen. Sie macht keinen Fehler, obwohl der Schweiß an ihren Fingern die Lagenwechsel erschwert. Möglicherweise hat sie die Sonate als Kind anrührender gespielt. Aber das kann Birger Harms nicht wissen, dafür ist ihre Technik heute ausgereifter.
»Vielen Dank, Janne. Das war exquisit«, sagt er, als sie geendet hat, und seine Stimme klingt sachlich. »Und jetzt?«
»Komm morgen wieder.«
In der Nacht ist an Schlaf nicht zu denken, da hilft auch keine Ablenkung. Janne wälzt sich von einer Seite auf die andere, wandert umher, stellt sich ans offene Fenster. Milde Nachtluft, Kopfschmerzwetter. Nichts ist mehr so, wie es vorher war. Sogar die Jahreszeiten spielen verrückt. Ihr Streifzug durchs Haus endet vor einer verschlossenen Tür im Dachgeschoss. Dahinter hat ihre Mutter, eine studierte Kunsthistorikerin, ein Malatelier für sich eingerichtet. Der Schlüssel steckt. Ohne nachzudenken, öffnet Janne die Tür und tritt ein. Sie schaltet das Licht an.
»O nein.«
Die geräumige Kammer, einst Rückzugsterritorium und absolutes Heiligtum ihrer Mutter, ist bis auf einen schmalen Gang in der Mitte zugestellt. Mannshoch türmen sich Gerumpel und Unrat: Farben, Zeitungen, halbfertige Ölbilder, Möbel. Ein fauliger Geruch liegt in der Luft, so streng, dass Janne die Hand vor Mund und Nase presst. So ungefähr stellt sie sich das Chaos in ihrem Kopf vor. Wenn es noch einen Beweis gebraucht hat, wie ernst es um Viktoria Flecker steht, ist dieser jetzt erbracht worden.
Das nächste Privatkonzert für Birger Harms fällt kurz und stümperhaft aus. Janne ist mit den Gedanken nicht bei der Sache. Sie will mit dem alten Mann über Hella reden, denn obwohl er so zurückgezogen lebt, scheint er über die Vorgänge in der Stadt bestens informiert zu sein.
»Kennst du Hella eigentlich gut?«
»Natürlich kenne ich sie. Aber was heißt gut? Ich kenne niemanden gut.«
»Sie hat den Mord an Erik gestanden.«
Er nickt und serviert Tee mit Rum, dazu Butterbrote. Im Ofen brennt ein Feuer. Der Abend ist kühler als die vorangegangenen.
»Du wusstest das?«
»Bei Johnny Ritscher erfährt man so einiges.«
»Auch welche Beweise gegen Hella vorliegen?«
»Nur Zeugenaussagen«, sagt Birger Harms gedehnt und beißt von seinem Brot ab. »Außerdem glauben sie, dass die Tatwaffe aus Eriks Wohnung stammt, jedenfalls hatte er genau diese Fallen zu Hause. Die sind hierzulande verboten.«
»Er hat sie in Schweden benutzt, um tollwütige Füchse zu jagen.« Janne schüttelt es, wenn sie nur daran denkt. »Was sagen die Zeugen denn gegen Hella aus?«, fragt sie weiter.
»Dass Erik und sie sich in letzter Zeit ziemlich oft in die Haare gekriegt haben. In aller Öffentlichkeit. Außerdem gibt es Leute, die gesehen haben wollen, dass sie spätabends ins Watt geritten ist. Am nächsten Tag war Erik tot. Das ist seltsam, oder?«
»Sie reitet viel. Warum nicht auch abends?«
Birger Harms legt seine Brotscheibe zurück auf den Teller. Sein Blick ruht auf ihr. »Du nimmst Hella in Schutz? Hast du Zweifel an ihrer Schuld?«
Janne blinzelt und schlägt die Augen nieder. »Vielleicht habe ich einfach Probleme, mir vorzustellen, dass Erik sich so sehr in einem Menschen getäuscht haben kann.«
Birger steht auf. Ohne Vorwarnung streift er sich den Strickpulli samt Unterhemd über den Kopf, um plötzlich mit nacktem Oberkörper vor ihr zu stehen. Er hat sich gut gehalten. Dann dreht er sich um und präsentiert seinen Rücken: Janne sieht mehrere Narben, lange graue Nackenhaare, die er zu einem dünnen Zopf gebunden trägt, und eine suppentellergroße Tätowierung auf dem linken Schulterblatt. Ein Frauengesicht inklusive Dekollete, jung, mit großen Augen, niedlich. Offenbar hat das Kunstwerk bereits etliche Jahre überstanden, denn die Konturen fransen aus, die Farben sind verblasst.
»Wer ist das?«, fragt Janne.
»Elfie. Siehst du die Narben?« »Natürlich.«
»Die stammen von ihr. Als sie erfahren hat, dass ich ihr untreu war, ist sie mit dem Küchenmesser auf mich losgegangen.« Er zieht sich wieder an, setzt sich hin und fährt fort. »Erik war ein treu sorgender Ehemann, aber er hatte die gleiche Schwäche wie dein Vater und ich und wie viele andere auch: schöne Frauen.«
»Willst du damit sagen, dass er
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