Blaufeuer
ins Wort.
»Ich will nicht über Erik reden.«
Plötzlich sind ihre Augen feucht, und in ihrer Stirnhöhle braut sich ein schmerzhafter Druck zusammen, den sie nicht kontrollieren kann. Schniefend versucht sie, die Tränen zurückzuhalten.
»Noch einen?« Birger Harms deutet auf die Flasche. Janne schüttelt den Kopf. »Oder lieber Tee?« »Ja, gern.«
Birger Harms geht in die Küche, schließt die Tür hinter sich und klappert mit Geschirr. Janne lässt den Kopf auf den Tisch sinken, vergräbt das Gesicht in der Armbeuge und heult los. Sie kommt nicht dagegen an. Das geht so lange, bis er wiederkommt und eine dampfende Kanne vor ihr abstellt. Als das friesische Gebräu seinen Duft verbreitet, versiegen die Tränen endlich. Der Ärmel des Pullovers ist nass, es ist Eriks Norwegerpulli, den sie nach der Arbeit rasch übergezogen hat und der eigentlich zu warm für den Abend ist. Wo die Wolle feucht ist, riecht sie nach ihrem Bruder. Nur ein Hauch, Einbildung vermutlich.
»Geht's besser?« Birger Harms schenkt Tee ein.
Janne nickt und reibt das Gesicht mit dem anderen Ärmel trocken.
»Nimm ordentlich Zucker.«
Bedächtig schaufelt sie drei Löffel braunen Kandis in ihre Tasse, rührt um und trinkt, während Birger Harms für sie eine Scheibe Schwarzbrot dick mit Butter bestreicht. Der Kandis knistert.
»Fisch dazu?«
»Nein, danke.«
Janne isst und trinkt, und es schmeckt köstlich. Inzwischen ist es still geworden und fast dunkel. Die Wildgänse sind verstummt, das letzte Tageslicht ist verbraucht. Nur der Wind istnoch zu hören, er bläst unter der Tür hindurch und lässt die Kerzenflamme tanzen. Warme, zornige Zugluft.
»Bist du bloß zum Flennen hergekommen, oder willst du was Bestimmtes?«, fragt Birger Harms, nachdem er sie zwei Brote und drei Tassen Tee lang in Ruhe gelassen hat.
Janne seufzt.
»Geht es aufwärts mit deinem Vater?«
»Nein. Er liegt im Koma. Deswegen bin ich hier.«
Ein fragender Blick.
»Ich weiß nicht, ob du davon gehört hast: Er hat mich gebeten, die Geschäftsführung der Werft zu übernehmen. Und ich Idiotin habe mich darauf eingelassen.«
»Ja, ich hab's mitbekommen. Das kann Paul: Leute dazu bringen, das zu tun, was er für richtig hält, egal ob sie können oder wollen oder nicht. Geht ja auch meistens gut.«
»Was soll das denn heißen?«, fragt Janne brüskiert. »Soweit ich weiß, hat er nie jemanden gezwungen, für uns zu arbeiten.«
»Du hast doch keinen blassen Schimmer, ob und wie dein Vater irgendjemanden zu irgendetwas genötigt hat, Janne Flecker.«
»Erik hat die Werft jedenfalls geliebt.«
»Das weiß ich. Erik war ein Glücksfall für eure Familie, für die Firma und diese ganze lausige Stadt.«
Janne spürt neue Tränen aufsteigen, aber diesmal hält sie sich zurück.
Birger Harms beobachtet sie. »Janne, ich gehe immer zeitig zu Bett. Also sag mir endlich, was du von mir willst.«
»Ich wollte dich um deine Hilfe bitten. Für den Anfang. Ich brauche auf der Werft einen erfahrenen Bootsbauer mit Meisterbrief, der auf meiner Seite ist und unsere Lehrlinge weiter ausbilden kann. Es wäre nur vorübergehend.«
»Das ganze Leben ist vorübergehend«, sagt Birger Harms undfängt an zu lachen. »Ich soll also den Karren mal wieder aus dem Dreck ziehen und deine Amme spielen?« Als Amme gilt in der Seefahrt ein erfahrener Offizier, der einem unfähigen Vorgesetzten zugeteilt ist. »War das deine Idee?«, fragt er. Janne nickt.
»Du bist genau wie dein Vater, original Paul Flecker«, sagt Birger, und sein Lachen dröhnt in ihren Ohren. »Du denkst also, du schaffst es nicht allein, wie? Wo liegen denn deine Stärken, Janne? Was kannst du besonders gut?«
»Geige spielen«, sagt sie spontan und macht sich auf weiteres Gelächter gefasst.
Aber Birger Harms wird wieder ernst. »Geige spielen. Ja, das stimmt. Geige spielen kannst du wunderbar. Als Kind hast du oft in der alten Werkhalle geübt, erinnerst du dich? Die Akustik hatte es dir angetan.«
Janne nickt.
»Aber sobald du bemerkt hast, dass die Arbeiter draußen stehen und zuhören, hast du deine Sachen gepackt und dich verdrückt. Jammerschade.«
Das unsanierte Gebäude wurde in dieser Zeit nicht genutzt. Umgeben von rostigem Schutt und Werkzeug begriff Janne dort den Unterschied zwischen Geige üben und musizieren. Eine Schatzhöhle. In der Phantasie einer Neunjährigen, die überzeugt war, Musik nicht nur hören, sondern auch sehen und fühlen zu können, schwebten die Klänge durch die
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