Blaufeuer
berührt dich nicht, dass Erik ermordet wurde. Du steckst das einfach so weg.«
Wortlos schleudert Janne den Bilderrahmen gegen die Wand, und das Glas zerspringt. Es regnet Splitter und Scherben. Dann legt sie auf.
Als sie sich beruhigt hat, wählt sie die Nummer der Chirurgie an der Hamburger Uniklinik, doch sie beendet die Verbindung nach dem ersten Freizeichen. Ihr Bruder hasst es, bei der Arbeit gestört zu werden. Also hinterlässt sie auf seiner Mailbox die dringende Bitte, sich um seine Familie zu kümmern. Sie spricht unterkühlt und abweisend.
Auf der Polizeiwache rechnet niemand mit ihrem Besuch. Janne muss auf dem Flur warten, bis einer der Kripobeamten Zeit für sie hat. Ein langer Gang. Es gibt Stühle, aber sie steht lieber. Stehen ist weniger verbindlich. Sie kann jederzeit gehen.
Janne lehnt mit dem Rücken an der Wand. Gegenüber pinnen Fahndungsfotos, daneben wohlmeinende Aufrufe gegen Gewalt an der Schule und Drogenmissbrauch. Putz blättert von der Wand, Jannes Fingernägel helfen nach.
Sie hat lange gezögert, gegen den Willen Paul Fleckers herzukommen, doch sie weiß sich keinen anderen Rat. Das Telefonat mit ihrer Mutter hat ihr gezeigt, dass sie nicht weiter verschweigen darf, was er ihr zuletzt am Krankenbett anvertraut hat. Sollte Hella tatsächlich unschuldig und der Mord an Erik ein Versehen gewesen sein, wird es Zeit, seine Kleine aus der Schusslinie zu bringen. Und falls sie es doch getan hätte, stünde ihr trotz allem ein fairer Prozess zu. Dazu müssen alle Fakten ans Licht. Aber unter welchen Umständen? Wohl ist ihr nicht bei der Sache. Begeht sie einen Fehler? Ihr Gewissen schweigt sich aus.
Hauptkommissar Frank Hagedorn bittet Janne in ein unaufgeräumtes Büro, wo er sich umständlich nach Paul Flecker erkundigt und Genesungswünsche äußert. Sie antwortet knapp. Dieser Heuchler. Ihrer Meinung nach hat der Vorfall auf dem Friedhof den Hirnschlag ihres Vaters erst ausgelöst. Sie betrachtet den Mann, sein rundliches Gesicht, freundlich, unauffällig und schlecht rasiert, und empfindet Abscheu. Die Stimme ihres Vaters hat sich in ihrem Kopf eingenistet. »Vergiss die Bullen« -unglaublich, dass er so etwas gesagt hat. Noch unglaublicher, dass sie drauf und dran ist, es zu ignorieren.
»Was führt Sie zu mir, Frau Flecker?«
Janne holt tief Luft und schweigt. Unter ihren Nägeln haftet Putz, den sie von der Wand gekratzt hat. Die Fingerspitzen sind weiß.
»Frau Flecker?«
»Ich habe gehört, die Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen meine Schwägerin erhoben?«
Der Kripobeamte verzieht keine Miene. »Tja, nach dem Geständnis steht einer Verhandlung nichts mehr Wege.«
Geständnis? Janne schluckt. Hella hat gestanden? Sie hat mit allem gerechnet, nur damit nicht. Sie versucht, ihre Überraschung zu überspielen. Hagedorn taxiert sie, er wirkt amüsiert.
»Dann brauchen Sie mich ja nicht mehr«, sagt sie. »Ich habe Sie nicht herbestellt.«
»Das weiß ich. Ich wollte lediglich sichergehen, dass Sie keine Fragen an mich haben, da ich neulich nicht in der Lage war, mit Ihnen zu reden.«
»Wie aufmerksam von Ihnen. Da werde ich die Gelegenheit gleich beim Schöpfe packen.« Er trinkt Kaffee aus einem Becher, der aussieht, als wäre er noch nie gespült worden. »Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrem Bruder Erik?«
»Es war ausgezeichnet. Obwohl wir in letzter Zeit wenig Kontakt hatten.«
»Und wie haben Sie sich mit Ihrer Schwägerin verstanden?«
»Nicht sehr gut, was vermutlich der Grund dafür ist, dass Erik und ich uns ein wenig auseinandergelebt haben«, antwortet Janne wahrheitsgemäß.
»Haben Sie das Hella übel genommen? Oder ihm?«
Janne steht auf. »Es gab keine Konflikte zwischen uns, wir haben nur seltener miteinander gesprochen als früher. Erik war hier und hatte sein Leben, und ich war die ganze Zeit in Berlin ... Hören Sie, ich möchte jetzt gehen.«
»Wann waren Sie zum letzten Mal in Cuxhaven bei Ihrer Familie?«, bohrt Hagedorn weiter.
»Ostern. Und jetzt muss ich los.« Sie streckt ihm zum Abschied die Hand entgegen, worauf er ihr seine Visitenkarte überreicht.
»Frau Flecker, wenn Ihnen doch noch etwas einfällt, was ich wissen sollte, rufen Sie mich an. Jederzeit.«
»Selbstverständlich«, sagt sie. Darauf kann er lange warten.
Die Polizeiwache befindet sich in der Cuxhavener Innenstadt am Rand der Fußgängerzone. Als die massive Holztür hinter Janne ins Schloss fällt, ist es bereits später Nachmittag, und da sie keinesfallsin
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