Blaufeuer
An den Seitenwänden stehen Holzbänke. Es riecht nach feuchtem Mörtel.
»In den zivilen Schutzräumen konnte bei Luftangriffen die gesamte einheimische Bevölkerung unterkommen«, doziert Hansen. »Jeder hatte seinen festen Sitzplatz und durfte darunter seinen kostbarsten Besitz in einem Koffer oder einer Kiste deponieren. Hier sehen Sie noch die Platznummerierungen an den Wänden. Da herrschte penible Ordnung.« Ihm ist anzusehen, wie sehr er sich nach einer penibel geordneten Welt sehnt.
Janne presst eine Handfläche gegen den kalten Stein und stellt sich vor, wie es hier unten gewesen sein muss, als oben die Bomben fielen und die Helgoländer mit ihren Kindern dicht an dicht nebeneinandersaßen.
»Gab es schwere Luftangriffe?«, will sie wissen.
»Ja, die gab es. Helgoland hatte erhebliche strategische Bedeutung als Marine- und Luftwaffenstützpunkt und sollte in einem Mammutprojekt zum größten eisfreien Kriegshafen des Deutschen Reichs ausgebaut werden. Die beiden schwersten Angriffe erfolgten nur drei Wochen vor Kriegsende, dabei wurden bis auf den Flakleitstand, der heutzutage als Leuchtturm genutzt wird, sämtliche Gebäude zerstört. Das wunderschöne alte Helgoland - futsch. Versunken in Schutt und Asche. Und es war ein prachtvolles Seebad, Sie haben die Fotos in meinem Büro ja gesehen.« Er lässt sich auf eine der Holzbänke fallen und lehnt den Hinterkopf gegen die Wand. Plötzlich wirkt er erschöpft. »Entschuldigung, aber das ergreift mich jedes Mal aufs Neue. Diese Verwüstung«, murmelt er. »Glücklicherweise wurden nur zwölf Zivilisten getötet. Dank dieser Anlage, in der wir uns befinden ... Trotzdem, ich kann mir vorstellen, wie furchtbar es hier unten gewesen ist, allein der Krach. Wissen Sie, ich habe als Kind den Feuersturm in Hamburg miterlebt. Das wird man nie mehr los.«
Janne muss daran denken, dass ihr Vater im Bombenangriff auf Dresden seine kleine Schwester verloren hat. Er hat selten darüber gesprochen. Aber wenn, hat er auch solche Worte wie »futsch« benutzt.
Ewald Hansen rappelt sich auf, und sie gehen zur Mauer, wo sie nach rechts in einen wesentlich schmaleren und niedrigeren Gang einbiegen, den Weddigenstollen. Er ist lang, ein Ende nicht erkennbar, und Janne fühlt, wie ihr Beklommenheit den Hals zuschnürt. Obwohl sie nur zu zweit sind und die Luft eigentlich nicht verbraucht sein kann, hat sie den Eindruck, kaum noch atmen zu können. Auch hier gibt es Sitzplätze, Klapphocker, die an der Wand befestigt sind.
»Zu den Festungsanlagen gehörte ein unterirdisches Lazarett. Es waren ja weit über zweitausend Soldaten und Marineangestellte auf der Insel stationiert. Bei den Luftangriffen wurden etliche von ihnen verwundet. Die Sanitäter mit den Schwerverletzten mussten durch den Weddigenstollen, deshalb die Sitze zum Klappen. Damit die Leute schnell aufstehen konnten, um Platz zu machen«, erläutert Hansen.
Janne versucht, nichts mehr an sich heranzulassen. Die Enge nicht zu spüren. Den Gestank des Blutes nicht wahrzunehmen, der sich in den Wänden festgesetzt hat. Seit dem Zusammenstoß im Watt weiß sie, wie Blut riecht.
»Ein gutes Stichwort, Herr Hansen. Es gab ja nicht nur zivile Bunker, sondern auch etliche militärische, wie ich gehört habe. Wie genau muss ich mir denn die gesamte unterirdische Anlage vorstellen?«, fragt sie, um Sachlichkeit ringend.
»Wie eine komplette Stadt unter Tage, plus Kaserne. Die hatten alles: Waschräume, Toiletten, Küchen, eine Bäckerei und wie gesagt ein Lazarett mit Operationsräumen. Dazu eine Notschule, Munitionslager und eine Anlage, die genutzt wurde, um Torpedos gefechtsbereit zu machen, einen U-Boot-Bunker und, und, und ...«
»Wer hat das alles gebaut?«
»Größtenteils Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Bis zu siebentausend Menschen sollen im Dritten Reich hier geschuftethaben. Unter härtesten Bedingungen. Kaum vorstellbar. Und die Nazis waren nicht die Ersten, die Helgoland zur Festung ausbauen wollten. Das hatten zuvor schon die Dithmarscher, die Dänen, die Briten und die Preußen unter Kaiser Wilhelm versucht. Vieles wurde zerstört oder teilweise verschüttet, aber weiterhin existiert ein Tunnel- und Höhlensystem von immensen Ausmaßen. Die genaue Zahl und Länge der unterirdischen Gänge ist nach wie vor unbekannt. Der Felsen ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse.«
Sie sind langsam weitergegangen und haben einen Nebenraum erreicht, in dem früher eine Küche untergebracht war, wovon allerdings
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