Blaufeuer
einen Blick aufdie Zettel werfen zu dürfen. Er war sehr höflich, also gestattete ich es ihm. Dann wollte er ebenfalls Kopien davon.«
Jannes Magen fühlt sich an, als hätte jemand hineingetreten. »Was war das für ein Mann?«
Auch Hansen ist entsetzt. »Hast du es ihm etwa erlaubt? Doch hoffentlich nicht. Die Leute sollen gefälligst zu mir kommen, wenn sie etwas wollen, das ist ja wohl das Mindeste. Ich bin überaus hilfsbereit. Mäuschen, sag schon, hast du es ihm erlaubt?«
Mäuschens Blick wandert zwischen Janne und ihrem Mann hin und her, und es ist nicht zu übersehen, dass sie sie beide für nicht ganz zurechnungsfähig hält. »Nein, ich habe es ihm nicht erlaubt, Ewald, natürlich nicht. Ich sagte: >Da müssen Sie zuerst mit meinem Mann reden< und nannte ihm unsere Adresse.«
Hansen atmet auf.
»Was war das für ein Kerl?«, insistiert Janne. »Kein Einheimischer, ich kannte ihn nicht. Er war sehr höflich, wie gesagt, und insgesamt eine angenehme Erscheinung.« »War er alt oder jung?«
»Eher in mittlerem Alter. Aber sicher bin ich mir nicht«, antwortet sie nach einer kurzen Pause. »Wissen Sie, ich denke, es reicht für heute. Mein Mann friert sehr schnell, und schließlich ist er nicht mehr der Jüngste. Er kann nicht ewig mit seiner nassen Hose im Flur herumstehen, und auch Sie sollten schleunigst die Kleider wechseln.«
Janne gibt sich geschlagen. Ewald Hansen begleitet sie zur Haustür. Sie könne jederzeit wiederkommen, falls sie noch Fragen habe, verspricht er flüsternd. Als sie sich für seine Hilfe bedankt, erwidert er: »Danken Sie nicht mir, danken Sie meiner Frau.«
Der Mahner und das Mäuschen.
Der Regen hat nachgelassen, der Westwind hingegen braust ungezähmt durch die rechtwinklig angelegten Gassen der Stadt. Es ist Abend geworden, der Fahrstuhlführer hat Feierabend. Die Stadt liegt wie ausgestorben unter einem schwarzen Himmel, als stünde der nächste Luftangriff unmittelbar bevor. Alle haben sich in ihren sturmsicheren Häusern verbarrikadiert, die Tagestouristen sind abgereist. Wirklich alle? Oder ist dieser Eine noch da, der Fremde mit dem angenehmen Äußeren, der sich für die Tyne interessiert? War das der Mann, der sie seit Wochen verfolgt - der Reiter, der Heckenschütze ... der Mann, dessen Schuhabdruck sie im Schnee gesehen hat? Ist er hier?
Janne muss die Treppe abwärts nehmen. Die Beleuchtung ist spärlich. Alle fünf Sekunden tastet sich der Strahl des Helgoländer Leuchtturms die Reede entlang, es ist das lichtstärkste deutsche Feuer, doch auf der Treppe unterhalb des Felsens kommt kaum etwas davon an. Sie zählt jeden Schritt. Hundertvierund-achtzig Stufen Einsamkeit. Würde sie hier und jetzt angegriffen werden, könnte sie schreien und schreien, niemand würde sie hören - so übermächtig ist das Getöse des Sturms. Selbst Schüsse gingen darin unter.
Unter diesen Umständen freut sie sich regelrecht auf die Begegnung mit Grits Mann Uwe. Auf alle Fälle ist es tröstlich zu wissen, dass sie die Nacht nicht allein in einem Ferienapartment verbringen muss.
Sie geht zurück ins Atlantis, wo sie ihre Reisetasche abgestellt hat. Grit ist nirgends zu sehen. Am Tresen sitzen zwei Männer, die nicht wie Touristen aussehen. Dahinter steht eine blondierte junge Frau mit Dauerwelle, die fröhlich mit ihren beiden einzigen Gästen plaudert. Das Radio läuft, ein älterer deutscher Schlager. Janne fragt nach der Chefin.
»Die ist schon zu Hause. Sind Sie Janne?«
Sie nickt.
»Ich soll Ihnen schöne Grüße bestellen, leider passt es heute Abend doch nicht. Uwe ist erkältet, der Ärmste«, sagt die Blondierte und legt ein Schlüsselbund vor Janne auf den Tresen. »Grit hat ein Apartment im Haus Seemöwe für Sie vorbereiten lassen. Wie viele Nächte bleiben Sie?« Sie wickelt sich eine platinblonde Locke um den Zeigefinger und plinkert fragend mit den Wimpern.
Janne braucht eine Minute, um die Nachricht zu verdauen, dann holt sie kommentarlos ihre Tasche hinter dem Tresen hervor und verlässt die Kneipe.
Es regnet wieder stärker. Auf der Hafenpromenade stößt sie mit einem Mann mit Kapuze zusammen und schreit auf. Er lacht, und an seinem Lachen erkennt sie ihn wieder: der bebrillte Spirituosenhändler von vorhin.
»Wo soll es denn hingehen?«, ruft er.
Janne blickt sich um und deutet auf das nächststehende Hotel.
»Ich bring dich hin, Janne Flecker.« Er nimmt ihr die Tasche ab und will nach dem Rucksack greifen. »Den trage ich.«
Er begleitet sie
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