Blaufeuer
hervorrufen.
Gewusst oder geraten, Reimer hat ihr einen guten Tipp gegeben. Ewald Hansen ist ein Glücksfall. Der selbst ernannte Regionalhistoriker, ein pensionierter Lehrer, erweist sich als kundiger Gesprächspartner, der sich selbst so gern reden hört, dass er Jannes Einsilbigkeit entweder nicht registriert oder sich schlichtweg darüber freut. Er wundert sich nicht über ihren Besuch, und er stellt keine überflüssigen Fragen, sondern bittet sie sogleich in sein Arbeitszimmer. Ein überheizter Raum, in dem Staubkörner durch die Luft wirbeln. An den Wänden hängen gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos vom Seebad Helgoland in wilhelminischer Zeit. Er verschwindet hinter einem riesigen Schreibtisch aus Eichenholz und bietet ihr den Stuhl davor an. Vermutlich könnte man auch um zwei Uhr nachts an der Tür seines blau gestrichenen Reihenhauses neben der Kirche läuten, um Auskunft über einen x-beliebigen Aspekt der Helgoländer Historie zu erbitten - und er würde bereitwillig Rede und Antwort stehen, voller Stolz, wie weit sein Ruf als Experte inzwischen gedrungen ist. Und das, obwohl er nicht auf Helgoland geboren wurde, wie er gern betont, sondern erst Anfang der Siebziger mit Gattin und Tochter auf die Insel zog, um eine Stelle an der örtlichen Schule anzutreten.
»Glauben Sie nicht, dass es für uns einfach war, hier Fuß zu fassen«, sagt er und stupst seine Frau an, die Tee und Gebäck aufträgt. »Stimmt es nicht, Mäuschen? Einfach war es nie. Aber wir haben uns nicht entmutigen lassen.«
»Nein, es war nicht einfach«, antwortet Mäuschen und zieht ein Gesicht, als hätte sich daran bis heute im Grunde nichts geändert.
»Heute sind wir hundertprozentig integriert«, betont Hansen. »Wie schön«, sagt Janne. Mäuschen lässt sie allein.
»Man muss den Menschen Interesse entgegenbringen, dann tauen sie auf. So einfach ist das. Interesse zeigen ist das A und O.
Helgoland hat rund tausendsechshundert Einwohner, und ich darf in aller Bescheidenheit behaupten, dass jeder von ihnen meinen Namen kennt und mein ehrenamtliches Engagement zu schätzen weiß. Wer etwas wissen will, wird direkt zu mir geschickt. >Fragen Sie doch den Ewald, der weiß Bescheid< - und schon steht wieder jemand vor meiner Tür. So wie Sie heute. Und ich helfe gern, mir macht das Freude. Sie beschäftigen sich also mit dem der Untergang der Tyne?«
»Ja.« Ursprünglich wollte sie zunächst allgemein nach Havarien fragen und sich schrittweise vortasten, damit nicht dasselbe passiert wie in Grits Kneipe. Doch beim hundertprozentig integrierten Ewald Hansen kann sie sich diese Mühe sparen.
Er zieht einen Aktenordner aus einem überladenen Bücherregal, das die Längsseite des Raumes einnimmt. »Schiffsunglücke nach 1945« lautet die akkurate Beschriftung. Genüsslich blättert er in Aufzeichnungen und vergilbten Dokumenten, unentwegt nickend, sporadisch liest er etwas Zusammenhangloses vor, das seine Aufmerksamkeit erregt hat. Zwischendurch befeuchtet er seinen Zeigefinger, um besser blättern zu können.
»Ach, da haben wir es ja schon. Die Tyne. Gesunken am Dienstag, 9. März 1976 in schwerer See vor der Nordspitze Helgolands. Eine frisch vom Stapel gelaufene Luxusyacht im Wert von einer Million Marit. Das war unglaublich viel Geld damals. Das Boot sollte nach England überführt werden, wo der Käufer es in Empfang nehmen wollte. Bei dem Unglück kam der Skipper ums Leben, ein gewisser Klaas Tegtmeyer, ein dreißigjähriger gebürtiger Helgoländer, der aber als Geschäftsmann in Hamburg lebte. Außerdem war der Werftbesitzer Paul Flecker an Bord. Er wurde vom Seenotkreuzer Wilhelm Kaisen aufgefischt. Tegtmey-ers sterbliche Überreste wurden nie gefunden.« Er hält inne. »Wie, sagten Sie, war doch gleich Ihr Name?«
»Janne Flecker«, antwortet sie und trinkt ihren Tee. Earl Grey.
Sie ist erschüttert: Ihr Vater schiffbrüchig den sturmgepeitschten Wogen der Nordsee ausgesetzt - die Vorstellung jagt ihr Schauer über den Rücken.
»Sind Sie mit Paul Flecker verwandt?«
»Er ist mein Vater. Ich erstelle eine kleine Dokumentation über die Firmengeschichte. Als Geburtstagsgeschenk.«
»Ach ja? Das ist aber ein netter Einfall. Da wird er sich bestimmt freuen, Ihr Herr Vater. Also, ich würde mich jedenfalls außerordentlich freuen. Es ist einfach schön, wenn man die Kinder bei sich hat. Wissen Sie, meine Tochter wohnt bei Köln und wir bekommen sie und die Enkel kaum noch zu Gesicht. Besonders für meine Frau ist das
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