Blaufeuer
nichts mehr zu erkennen ist. Auch hier stehen Bänke. Diesmal ist es Janne, die sich vorübergehend hinsetzen muss, weil die Atemnot ihr zunehmend zu schaffen macht.
»Haben einige dieser Gänge und Höhlen Zugang zum Meer?«, keucht sie.
»Aber sicher doch. Betreten strengstens verboten.« »Könnte man darin eine Yacht wie die Tyne vorübergehend verstecken?«
Es gibt Fragen, die sogar einen Fachidioten wie Ewald Hansen stutzig machen. Das war eine davon, wie Janne seinem Gesichtsausdruck entnimmt.
»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragt er entgegen seiner Gewohnheit, jede Art von Wissbegier zunächst einmal willkommen zu heißen.
»Nur so als Gedankenspiel«, sagt Janne.
Er setzt sich neben sie. »Theoretisch wäre es sicher möglich, aber viel zu gefährlich. Welcher halbwegs vernünftige Skipper würde sich in stürmischer See so nah an die Klippen heranwagen? Und dann die Gefahr, entdeckt zu werden. Es müsste einen Komplizen geben, der dieses Tunnellabyrinth wie seine Westentasche kennt, und zwar jeden einzelnen Abzweig. Aber wir redenhier von kilometerlangen Gängen. Also, ich wüsste niemanden. Außerdem bilden die Insulaner eine enge verschworene Gemeinschaft, Frau Flecker, das können Sie mir glauben. Da bleibt nichts lange geheim. Eine derartige Aktion wäre mir über kurz oder lang bestimmt zu Ohren gekommen, Sie wissen ja, ich habe meine Fühler überallhin ausgestreckt.«
»Ich weiß, Herr Hansen, ich weiß«, beeilt sich Janne zu versichern. »Es war wirklich nur ein Gedankenspiel.«
Als sie weitergehen, ist sie überzeugt, dass es sich genau so zugetragen hat.
Wieder an der frischen Luft. Endlich. Es ist deutlich wärmer geworden, und der Wind hat Sturmstärke angenommen. Das atlantische Tief, fürs Wochenende angekündigt, hat die Deutsche Bucht eindeutig zu früh erreicht. Janne begleitet Hansen zurück zu seinem Haus. Sie müssen sich gegen die Böen stemmen und kommen nur langsam voran. Starker Regen schlägt ihnen entgegen. Schwere Tropfen, die nach Meerwasser schmecken.
Trotz des Unwetters bleibt er bei einem Vorgarten stehen und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf einen Baum. Dieser Maulbeerbaum sei ein Symbol der Hoffnung und des Friedens, ruft er, weil er sämtliche Bombenangriffe und sogar den Big Bang überlebt habe.
Der Big Bang. Nach dem Krieg war die entvölkerte Insel in den Besitz der britischen Streitkräfte übergegangen, die im April 1947 den Versuch unternahmen, sämtliche über- und unterirdischen Militäranlagen zu sprengen - und dabei möglichst die gesamte Insel auszuradieren, der sie den Namen Hell-Go-Land verpasst hatten. Das hat Janne in der Schule gelernt. So auch, dass das Felsgestein sich als nahezu unverwüstlich erwies, obwohl fast siebentausend Tonnen Sprengstoff zum Einsatz kamen. Sie erinnert sich an ihren jüngst gehegten Wunsch, eine Insel zusein, und konkretisiert diesen in Gedanken: Helgoland. Wenn eine Insel, dann Helgoland, die Heilige.
Hansen brüllt noch immer gegen den Sturm an wie ein Besessener, es gehe um Krieg und Frieden und die Pflicht, nicht zu vergessen. Ebenso wie sie ist er mittlerweile völlig durchnässt, und seine Augen haben einen fiebrigen Schimmer.
»Herr Hansen, besser, wir gehen jetzt zurück zu Ihnen nach Hause«, ruft sie ihm ins Ohr.
Zurück im blauen Reihenhaus der Hansens ist Mäuschen offensichtlich darauf vorbereitet, ihren Mann in diesem tropfnassen Zustand in Empfang zu nehmen. Sie hat für jeden ein rosa verwaschenes Frotteehandtuch parat. Diesmal ergreift sie das Kommando.
»Gründlich abrubbeln«, befiehlt sie.
Hansen gehorcht, ohne sein Plädoyer zu unterbrechen. »Ich bin ein Mahner, und das ist gut so. So lange ich lebe, werde ich nicht aufhören zu mahnen.«
»Zieh die nasse Jacke aus«, zischt seine Frau.
Sie stehen im Flur neben der Garderobe. Janne trocknet sich nicht ab, denn sie muss ja doch wieder hinaus in den Regen.
»Sie wollen sich wohl unbedingt den Tod holen«, sagt Mäuschen.
»Lass sie doch«, entgegnet Hansen und rubbelt seine grauen Haare, die ihm bereits in allen Richtungen vom Kopf abstehen.
Zu guter Letzt nimmt Mäuschen Janne das unbenutzte Handtuch wieder ab und überreicht ihr stattdessen einen Leinenbeutel. Darin befinden sich eine Klarsichttüte, prall gefüllt mit Gebäck, und ein brauner Umschlag.
»Ihre Kopien«, sagt sie. »Den Beutel können Sie behalten, kann man ja immer mal gebrauchen. Wissen Sie, was komisch war? In der Kurverwaltung war ein Mann, der mich bat,
Weitere Kostenlose Bücher