Blaufeuer
Rücken behält. Entsprechend neugierig wird sie von allen Seiten beäugt. Nach dem Frühstück checkt sie aus.
Auf der SK Hermann Marwede, dem größten Seenotkreuzer der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, der auf Helgoland stationiert ist, begrüßt die Mannschaft Janne unerwartet herzlich. Es stellt sich heraus, dass die Männer Erik gut gekannt haben, einige berichten, dass sie an der Beisetzung teilgenommen haben. Janne erinnert sich nicht an ihre Gesichter, wohl aber an den Kranz, den die Organisation gespendet hat: weiße Callas und ein Satz von Theodor Storm auf dem Trauerband: »Wir wissen's doch, ein rechtes Herz ist gar nicht umzubringen.«
Höflichkeiten werden ausgetauscht. Eine Weile sprechen sie über Erik, bis Janne den Mut fasst, sich zu erkundigen, ob einer der Männer bereits auf dem Vorgängerschiff Wilhelm Kaisen gedient hat und mit von der Partie war, als ihr Vater nach dem Untergang der Tyne aus der Nordsee gefischt werden musste. Der Kommandant, ein vollbärtiger Mittfünfziger, antwortet: »Ja, ich war dabei, als junger Maat. Warum?«
»Wie hat sich der Einsatz damals abgespielt?«
»Wie immer. Ein Notruf wurde abgesetzt, daraufhin sind wir umgehend zur angebenden Position ausgerückt. Es herrschte extrem starker Wellengang. Ihr Vater hat eine Leuchtrakete abgefeuert, daher haben wir ihn Gott sei Dank ziemlich schnell gefunden. Bei der Bergung hatte er ganz schön Schiss in der Büx, das war nicht zu übersehen. Ist ja auch kein Wunder.«
»Haben Sie noch lange nach dem zweiten Schiffbrüchigen gesucht?«
»Tagelang. Leider vergeblich, wie Sie vermutlich wissen.«
»Fanden Sie es seltsam, dass das Wrack nie geortet wurde?«
Der Kapitän fixiert sie. Seine Augen sind stechend blau. »Was ich seltsam finde, ist Ihre Unverfrorenheit, auf meinem Schiff eine derartige Befragung durchzuführen. Tun Sie das nicht, Janne, lassen Sie die Toten ruhen und kümmern Sie sich lieber um Ihre Familie, die Sie braucht.«
Nichts anderes hat sie im Sinn.
Der Tag ist ohne Schrecken. Jannes Angst hat in der vergangenen Nacht in gewisser Weise den Zenit überschritten. Das Maß war voll. Nun bewegt sie sich mit vorsichtiger Gelassenheit über die Insel, und das sonnige Wetter bestärkt sie darin. Nur ab und zu sieht sie nach, ob ihr jemand folgt.
Die Funny Girl hat angelegt, und die Passagiere schwärmen aus. Bald sind die Hafenpromenade und die Gassen des Unterlands mit ihren Parfümerien, Ledergeschäften, Juwelieren und Spirituosenläden angenehm belebt. Scheinbar ziellos streift Janne umher, um sich schließlich unter die Mitglieder einer Reisegruppe zu mischen. Den Gesprächen zufolge haben die Tagesgäste dasselbe Ziel wie sie: die Lange Anna, ein schmaler Felsenturm in der Brandung, Helgolands Wahrzeichen an der Nordspitze des Eilands.
Vom Binnenhafen führt ein Wanderpfad steil bergauf ins Oberland. Sie passieren die Paracelcus-Klinik, die in einem gewaltigen Bombentrichter errichtet wurde. Dahinter erstreckt sich unbebaute Natur. Da es sich bei der Reisegruppe um einen Kegelverein handelt, fliegt Jannes Anwesenheit nach einer Viertelstunde auf. Sie lässt ihren Charme spielen. Die Kegler, zehn Frauen und vier Männer im Rentenalter, entscheiden per Handabstimmung, sie in ihren Reihen willkommen zu heißen. Einer der Männer, offensichtlich der Protokollführer, notiert das einstimmigeVotum in einem kleinen blauen Notizblock, wobei eine der Frauen sich vorbeugt, damit er ihren Rücken als Schreibunterlage benutzen kann. Ein eingespieltes Team.
Sie kommen nur langsam voran. Zum einen weil die Kegelfreunde nicht sehr gut zu Fuß sind, zum anderen weil jeder neue Ausblick über die Nordsee gebührend bewundert werden muss. Das heißt im Stehen und möglichst mit einem Prosit. Wie bei der Jagdgesellschaft kommen versilberte Flachmänner zum Einsatz. Janne nippt ab und zu.
Sie befinden sich auf dem Klippenrandweg. Die roten Buntsandsteinfelsen fallen bis zu sechzig Meter senkrecht ab ins Meer, das die Farbe von tiefblauem Gletschereis angenommen hat. Die Sonne wärmt ihre Gesichter, und es weht ein mäßiger Wind aus Südwest. Die Kegelfreunde singen »Wenn die bunten Fahnen wehen«. Janne kennt das Lied und stimmt ungeachtet ihrer Halsschmerzen ein, was ihr unübersehbar Pluspunkte beschert. Bei der letzten Strophe entdeckt sie inmitten einer anderen Gruppe ein gutes Stück entfernt einen Mann, der trotz des schönen Wetters die Kapuze tief in die Stirn gezogen hat. Er
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