Blaulicht
»rund um Lindau« animierte, hätte er sich diesen Vorschlag verkniffen. Nicht einmal ihm, der er alle Abgründe ehelichen und zwischengeschlechtlichen Lebens erkundet zu haben glaubte, war jemals aufgefallen, dass elementare Unterschiede zwischen Mann und Frau schon beim einfachen Spazierengehen in freier Natur zutage treten. Oder hatte er sie in den vielen Jahren, die seit seiner Scheidung vergangen sind, einfach nur – vergessen? Sein Plan war gewesen, sich zügigen Schrittes ein wenig Bewegung zu verschaffen und dabei zielstrebig das Ende des Rundgangs, den Lindauer Wirt, anzusteuern, und er hatte sich in Sicherheit gewiegt, da sein Urlaubswinkel weit entfernt ist von Fußgängerzonen mit Schuhgeschäften. Aber nun wird er Zeuge, wie sich eine reife Frau mit zwei Doktortiteln in ein kleines Mädchen zurückverwandelt, das womöglich noch daran glaubt, dass die Natur von Wichteln bevölkert ist wie in den gereimten Bilderbüchern aus seiner Kindheit.
»Gloßner! Schau mal!« Sie weist auf eine Stelle neben dem schmalen Pfad, an der er eben vorbeigestapft ist.
»Hm?«
»Eine Blindschleiche! Hast du die gesehen?«
Blindschleichen sind, nach Gloßners Ansicht, hauptsächlich zum Durchnehmen im Biologieunterricht da, und was er vor seinem inneren Auge sieht, ist für ihn von größerer Priorität: Eine oberpfälzische Brotzeitplatte, begleitet von zwei bis drei hellen Haberl. Diese Vision droht allerdings in weite Ferne zu rücken angesichts Kaschas Begeisterung für alles, was die Wälder und Wiesen bevölkert.
Gloßner starrt ein paar Gänseblümchen an und behauptet:
»Wirklich süß, die Blindschleiche.«
»Mensch, Gloßner!« Kascha boxt ihn leicht in die Rippen. »Die ist doch gar nicht da, wo du hinschaust!«
Es ist nicht so, dass Gloßner für Natur nichts übrig hätte. Im Gegenteil, wenn man ihn fragte, ob er ein Naturfreund sei, würde er ohne Zögern bejahen. Oder vielmehr: Bis vor einer halben Stunde hätte er diese Frage noch bejaht. Jetzt hat er ernsthafte Bedenken, ob er die Natur womöglich sein Leben lang nur als eine freundliche Kulisse mit Ruhebankangebot gesehen hat – eine Art Kollektivwesen, das seinem Auge angenehmes Grün bietet, seine Ohren mit Vogelgesang und Insektensummen unterhält, ihn ansonsten in Ruhe lässt und mit elementaren Genüssen versorgt, insbesondere denjenigen aus Hopfen und Gerste. Genau deswegen hatte ihn wohl damals das Angebot auf dem kopierten Blatt, das ihm sein Kollege in die Hand gedrückt hatte, neugierig gemacht, und den entscheidenden Satz kann er immer noch auswendig – »Das ehemalige Zollhaus liegt ruhig, aber nicht einsam, denn ein Gasthof ist in unmittelbarer Nähe.«
Jetzt steht Kascha vor einem hölzernen Wegweiser und streift endgültig ihre Nürnberger Praxisexistenz ab.
»Gloßner, das ist ja phantastisch! Da geht’s zu einem Wildgehege! Warum hast du mir davon gar nichts erzählt? Ist das weit? Gehen wir hin? Was gibt’s denn da alles?«
»Na ja – halt ein paar Hirsche und Wildschweine und so was. Waschbären soll’s auch geben, die hat aber noch niemand gesehen. Ist ganz in der Nähe.«
Mit halbem Ohr hört Gloßner der Anekdote zu, die Kascha ihm auf dem Weg zum Wildgehege erzählt – irgendwas von Waschbären in Kanada, die sich im Olympiadorf bei Montreal auf der Suche nach Futter unter die ausgelegten Rollrasenstücke gewühlt hätten – »Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ausgesehen hat! Den Rollrasen haben die natürlich ruiniert.« –, und denkt darüber nach, was Kascha dazu bewogen haben mochte, ausgerechnet Psychotherapeutin zu werden. Ob sie vielleicht, überlegt er, momentan von den intensiven menschlichen Kontakten einfach überfordert ist? Und das Bedürfnis nach Lebewesen hat, die ihr nichts von irgendwelchen Komplexen und Traumata erzählen und für die elementarsten Formen der Zuwendung empfänglich sind? Kascha ist bereits mit einem Hirsch näher bekannt geworden, der sich dem Zaun genähert hat und sich von ihr mit saftigen Grasbüscheln füttern lässt.
»Hast du schon einmal das Geweih angefasst? Das fühlt sich ganz samtig an.«
Gestern Abend waren sie nach Kaschas Ankunft noch auf der Bank vom Lindauer Wirt gesessen, hatten bei Bier und Brotzeit einen kleinen Plausch mit anderen Feriengästen gehalten und den Blick in die weite Landschaft genossen, die jedem, der sich in ihr aufhielt, binnen Kurzem eine Ruhe und Gelassenheit gab, die tibetanische Mönche in jahrelanger Meditation erwerben.
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