Blaulicht
gab keine Spur von Gewalteinwirkung. Aber manchmal reicht doch schon ein Stoß hinterrücks – sieht man denn davon noch was? «
»Und warum sollte jemand so etwas getan haben?«
»Es laufen doch genug Leute da draußen herum, die überhaupt keinen Anlass brauchen, jemanden zu verprügeln oder totzuschlagen.« Zum ersten Mal wird seine Stimme bitter.
Zoe weiß, dass sie schon längst begonnen hat, die beiden zu quälen, und jede Frage, die sie stellt, hinterlässt einen unangenehmen Geschmack auf ihrer Zunge. Anders als für Heike Harms steht für Karl Rißmann unzweifelhaft fest, dass sich sein Enkel nicht das Leben nehmen wollte. Aus ihrem Psychologiestudium weiß Zoe aber, dass es Angehörigen immer schwerfällt, so etwas zu akzeptieren, man verdrängt es, sucht Schuldige, weil der Verlust sonst noch schwerer zu ertragen wäre. Zoe versucht es so behutsam wie möglich:
»Hatte Moritz vielleicht Liebeskummer oder Ärger in der Schule? So etwas kann junge, sensible Menschen enorm belasten.«
»Er war doch mit Sandra zusammen. Ein feines Mädchen und hochmusikalisch. Die beiden waren unzertrennlich, haben sogar ein eigenes Ensemble gegründet.”
»Oh Gott, sie wissen es noch nicht«, denkt Zoe, »in ihrer Welt gibt es keine Bild -Zeitungen.« Aber sie beschließt, erst einmal weiterzumachen, bis die Rißmanns von sich aus fragen – und sie gezwungen sein wird, ihnen eine weitere schwarze Perle für ihre traurige Kette aus Schicksalsschlägen zu überreichen.
»War er irgendwie anders in den Wochen, bevor er seinen Unfall hatte?«
Inge Rißmann, die wieder aus dem Haus tritt, hat die Frage gehört.
»Er stand schon unter Druck, das konnten wir spüren, er wirkte oft angespannt, schlief schlecht. Ich glaube, er hatte sich einfach zu viel vorgenommen. Er war im Bachensemble, hatte seine Band, er wollte komponieren, und dann musste er sich ziemlich anstrengen, um in Mathematik durchzukommen. Aber es war nicht seine Art, sich über solche Dinge zu beklagen, und wir dachten uns, er wird schon selber merken, wenn er an seine Grenzen stößt.«
Zoe schließt ihre Notizen ab und nimmt den letzten Schluck Tee. Dann kommt die Frage, die eigentlich schon viel früher hätte kommen müssen und vor der sie am liebsten geflüchtet wäre:
»Sagen Sie bitte, Frau Kandeloros, gibt es denn jetzt nach drei Jahren etwas Neues über den Tod von unserem Moritz?«
*
»Die Squaw«, hatte Mattusch gesagt, »wenn Sie es ganz genau wissen wollen, sollten Sie die Squaw fragen.«
Sabine Hartung ist keine Indianerin, sie ist in Lauf an der Pegnitz geboren und nicht nur von ihrem Familienstammbaum her durch und durch fränkisch, auch ihr Blut ist es – das hat sie selbst herausgefunden. In ihren Adern fließt eine typisch fränkische Mixtur, die eine lange Geschichte erzählt von Eroberungen, Wanderungen, Siegen und Niederlagen.
»Ein kleines Faible von mir, Blutuntersuchungen, obwohl das eigentlich nicht mein Spezialgebiet ist. Weiß der Teufel, warum ich so aussehe wie die Schwester von Winnetou! Aber wissen Sie was – es gefällt mir.«
Offenbar hatte die Kriminaltechnikerin Zoes Gesichtsausdruck exakt zu deuten gewusst, vielleicht hat sie sich im Laufe der Jahre aber auch nur daran gewöhnt, wie ein leicht exotischer Schmetterling angesehen zu werden. Auf jeden Fall hatte Zoe auf der Stelle Vertrauen zu der hochgewachsenen, dunklen Frau gefasst und sich über die vielen großen und kleinen Fotografien von Indianern an der Wand amüsiert.
»Es geht also noch einmal um die Rißmann-Geschichte. Sie sind der Meinung, dass die was mit der Messerattacke vom Dienstag zu tun haben könnte?«
Zoe nickt, sicher ist sie sich natürlich nicht, aber vielleicht steckt doch irgendetwas drin, das im Fall Sandra Kovács weiterhelfen könnte. Eine Kleinigkeit bei der Durchsicht der alten Akte war ihr aufgefallen und genau dies ist der Grund, weshalb sie jetzt noch nach Feierabend im Büro der Squaw sitzt und schon wieder Eistee trinkt. Nachdem sie von Moritz’ Großeltern ins Präsidium zurückgekehrt war – meine Güte, was für ein Temperaturunterschied zwischen Mögeldorf und der Innenstadt! – hatte sie zunächst das Protokoll geschrieben und anschließend in die Unterlagen geschaut, die Mattusch ihr hatte raussuchen lassen. Dick war die Akte nicht. Ein junger Mann war ums Leben gekommen, Tod durch Ertrinken, hieß es ebenso lapidar wie eindeutig. Mit der Bemerkung »kein Gewaltverbrechen« hatten die Einträge geendet,
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