Blaulicht
jetzt, nicht? Wenn man ist im Lokal mit Freunden und einfach nur entspannt, richtig? Habe ich so gehört in Deutschland.«
Sie trinkt aus und bestellt das zweite Bier.
»Und Emil Zatopek hat immer getrunken tschechisches Bier. Und hat gewonnen. Also machen Sie keine Sorgen um Kondition. Bei uns sagt man pivo dˇela hezká tˇela . Bier macht schöne Körper.«
Kalz wirft einen Blick auf die Bier trinkende Runde am Tisch und setzt zu einem Einwand an.
»Was die haben«, Ivana deutet einen Schwangerschaftsbauch an, »kommt nicht von Bier. Kommt von tschechischer Küche. Viel Fett, viel Mehl, viel Zucker, viel Fleisch. Kein Gemüse, kein Obst. Apropos – haben Sie schon gegessen?«
Kalz winkt ab. »Das hat Zeit.«
»Nein, nein. Später geht nicht mehr. Und wir brauchen noch Energie für heute Abend. Kollege Martin, entspannen Sie. Die Arbeit ist kein Hase.«
Kalz schaut.
»Sie läuft nicht weg. Kommen Sie.«
Sie wechseln von der Theke an einen der freien Tische.
»Nehmen Sie einen Zigeunerbraten. Ist Spezialität vom Koch. Und erzählen Sie mir beim Essen alles, was Sie über Sandra wissen.«
Am Ende der Mahlzeit ist Ivana nicht nur über den Fall Kovács informiert, sondern hat dem Kalz sogar einsilbige Bemerkungen über die Meerschweinchenzucht seiner Töchter und den Musikgeschmack seiner Frau entlockt. Der wiederum spürt eine Ahnung vom tieferen Sinn des in Tschechien häufig vorkommenden Familiennamens Dienstbier in sich aufsteigen.
»Wie war der Zigeunerbraten?«
»Zu fett.«
»Möchten Sie einen Becherovka?«
»Um Gottes willen.«
Und dann beginnt die Reise. Ivana steuert den zivilen beigefarbenen Polizeiškoda in eine südöstliche Vorstadt. Eine Weile geht es an Straßenbahngeleisen entlang, links und rechts Reihen von rußgeschwärzten Mietshäusern. Ein gelber Triebwagen der Linie 1 kommt ihnen entgegen, als wolle die offizielle Welt, die nach Fahrplänen und Öffnungszeiten funktioniert, eine letzte Botschaft schicken, bevor es hinabgeht in die Clubs in den Kellergewölben, wo gepiercte Haut, die ihr Blut verschenkt hat, zu Musik tanzt, pulsierend in schweren Rhythmen, glühende Hämmer schlagen auf Ambosse ein, Gesichter, von Sicherheitsnadeln zusammengehalten, werden herangezoomt und verschwinden wieder, und wer vermag noch zu sagen, ob Jahrmillionen oder Millionstel von Sekunden zwischen den Schlägen vergehen, deren Basswellen im Mauerwerk schwarze Einsturzvisionen hervorrufen, und endlich, nachdem viele Male das Foto von Sandra Kovács mit einem gleichgültigen ne kommentiert wurde, schreit ein Typ mit einem Pfauenrad von Irokesenschopf eine ausführlichere Antwort in Ivanas rechtes Ohr, während eine Liveband ihre Instrumente massakriert.
Ivana fragt noch einmal zurück und deutet dabei zu Kalz’ Überraschung nicht auf Sandra Kovács, sondern auf Wolfgang Gerlach.
»Ano, ano! Jistý!« erwidert der Irokese und zieht dabei hektisch an seiner Zigarette.
Kalz kämpft mit einem Hustenanfall, aber das Gespräch ist nicht so schnell zu Ende. Als sie schließlich auf der Straße stehen, holt er mehrmals tief Luft.
»Was hat er gesagt?«
»Er ist hundertprozentig sicher, dass er hat den Musiklehrer schon gesehen. Soll zwei- oder dreimal hier gewesen sein. Wann genau, weiß er nicht mehr. Aber noch nicht lang zurück.«
»Und Sandra Kovács? Hat er die auch erkannt?«
»Nein.« Ivana entriegelt die Wagentüren. »Aber er hat einen Tipp gegeben, wo ein Mädchen wie sie kann gewesen sein. Fahren wir.«
Der Tipp ist stará vila , eine alte Villa, die im Jahr 1989 von ihren ehemaligen Bewohnern unter Zurücklassung allen Eigentums verlassen und in den Händen jugendlicher Hausbesetzer einem neuen Leben zwischen Abend- und Morgendämmerung geweiht wurde. Die Wände sind von mehreren Farbschichten bedeckt, über psychedelische Landschaften wurden Graffiti gesprüht, die Graffiti von neuen Werken überpinselt. Die offenbar original roten Vorhänge der Bibliothek im Obergeschoss inspirierten die neuen Hausherren zu einem Roten Salon, für den auch die Bücher aus den Regalen genommen, in rote Farbe getaucht und anschließend wieder an ihren Platz gestellt wurden. Ein anderer Raum ist mit einer gekritzelten Inschrift über der Tür als black box ausgewiesen, ein Café, das an Wänden und Decke mit einer Collage aus schwarzen Stoffen ausgekleidet ist und von den Klängen, die aus dem Keller dröhnen, nur indirekt beschallt wird. Ivana bestellt bei einem schmächtigen,
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