Blaulicht
kaum achtzehn Jahre alten Jungen zwei Kaffee. Zwei Männer an einem kleinen runden Tisch schienen eben noch in ein Gespräch vertieft und widmen sich nun ihren bläulich schimmernden Cocktails.
Der Junge stellt zwei Mokkatassen auf die Theke. Ivana zeigt ihm das Foto von Sandra Kovács, und für eine hundertstel, wenn nicht tausendstel Sekunde scheint ein Erkennen in seinen Augen aufzuflackern. Kalz kann den folgenden Wortwechsel nicht verstehen und stellt auch keine Fragen, denn vor dem Betreten der stará vila hat Ivana ihn gebeten, keinesfalls Deutsch zu sprechen, doch sieht er die Augen des Jungen unruhig zur Seite wandern, dorthin, wo die Cocktails stehen, vor denen die beiden Männer sitzen, deren älterer, ein kahlgeschorener Mittdreißiger, sich jetzt erhebt und gemächlich zu Kalz und Ivana schlendert, und Kalz entgeht nicht, dass der zweite, lederbejackt und mit weißblond gefärbtem Haar, eine kleine Spur zu unauffällig und mit unterdrückter Eile sich anschickt, den Raum zu verlassen, wie ein Schwarzfahrer in der U-Bahn, der, Kontrollpersonal witternd, den Zug verlässt und dabei den Eindruck machen will, als habe er ohnehin an genau dieser Station aussteigen wollen. Eben hat der Glatzkopf Ivana angesprochen, Kalz verlässt den Platz an der Theke und sieht, als er das Treppenhaus erreicht und nach unten späht, den Mann dem Ausgang zueilen. Er nimmt die Verfolgung auf, schiebt Menschen zur Seite; bis er draußen ist, hat der andere schon zweihundert Meter Vorsprung gewonnen. Kalz rennt. Der vor ihm verschwindet in einer Toreinfahrt. Weit hinter sich hört Kalz einen Motor aufheulen. Als er ebenfalls in den Durchgang einbiegt, der zu einem Rückgebäude führt, ist keine Spur mehr von dem Mann zu sehen. Im selben Augenblick, als Kalz seinen Fehler bemerkt, wird er mit Wucht in die Seite gestoßen, er taumelt einige Schritte, fängt sich, entgeht um Haaresbreite der Messerklinge, versetzt dem Angreifer einen Tritt, der ihn gegen die Mauer wirft, und dann wird die Szenerie in das Licht zweier Scheinwerfer getaucht, keine zwei Meter entfernt stoppt der Wagen, aus dem Ivana springt, ihre Dienstwaffe in der Hand, sie beschießt den Mann in der Lederjacke mit Wortsalven, unter denen er einknickt und sich bäuchlings auf den Boden legt, die Arme von sich gestreckt. Und jetzt schrillen aus verschiedenen Richtungen die Signale von Streifenwagen, die sich rasch nähern.
*
Hallo. Ich heiße Zoe. Darf ich Sandra zu dir sagen?
Was wissen denn die Lebenden von der Welt, in der man keinen Namen trägt? Von Sandras Sehnsucht, keinen Namen mehr zu haben? Wer die Sehnsucht hat, gehört nicht mehr zu ihnen.
Der isst und trinkt nicht mehr wie sie, der fragt: Warum esse ich?, wenn er isst, warum trinke ich?, wenn er trinkt.
Wenn er geht: Warum gehe ich?
Und jedes Mal lauscht er vergebens in die Welt, ob sie ihm Antwort gibt.
Dem tut die Musik weh, die sie hören, und jedes ihrer Bilder beißt ihm die Augen aus.
Wenn Sandra alleine ist, spricht sie manchmal zwei Worte in die Stille.
»Ich atme.«
Das klingt, als spräche sie von einer lästigen Angewohnheit, die sie nicht ablegen kann.
»Ich atme.«
Wie lange ist es her, dass ihr langes blondes Haar zu Boden fiel, ohne dass sie leichter wurde?
Hat sie gehofft, dass ihr das Wunder geschieht, das noch keinem geschehen ist, der ein anderer sein wollte?
Ein Piercing in der Zunge. Wenn meine Zunge nicht mehr meine Zunge ist, muss ich die Welt nicht mehr schmecken.
Metall in der Nase, in den Lippen, am Kinn. Und dort, wo einmal die Augenbrauen waren.
Hat sie gedacht: Damit mein Gesicht nicht mehr mir gehört?
Die Krankenschwester, die jetzt ihr Zimmer betritt, weiß nicht, dass Sandra spricht. Sie war nie dabei, als Sandra sprach:
»Ich atme.«
Und dabei das Aquarell an der Wand gegenüber anstarrte, darauf ein Haus in einer Landschaft, die vollgesogen scheint von Nässe. Nur wegen der drei Birken neben dem Haus.
Dem Polizisten vor der Tür hat die Krankenschwester einen Kaffee mitgebracht.
Schwarz gegen Schwarz! Das hat schon Sandra versucht, als sie ihre Haare färbte.
Sarabande
»Du kennst doch den Mattusch. Dem ist sein Wochenende heilig. Der will mit seiner Frau ruhig und zufrieden durch die Fränkische Schweiz spazieren und in Unterzaunsbach seine Forelle essen.«
»Das hast du mir gestern schon gesagt, Gloßner.«
Frau Dr. Halbritter steuert ihren Fiat ein wenig zu schnell über die schmale Verbindungsstraße von Lindau nach
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