Blaulicht
schließlich heiser. Hat er die richtigen Worte verwendet? Er greift nach seinem Hals.
»Mir ist zu warm.«
Die Krankenschwester lächelt nachsichtig.
»Sie haben einen Wundverband am Hals, Herr Gerlach. Der muss dranbleiben.«
»Was ist passiert?«
»Sie hatten – einen Unfall. Aber Sie müssen sich keine Sorgen machen. Sie sind außer Gefahr.«
Eine der Apparaturen am Nachbarbett gibt piepsende Signale von sich. Seit wann liegt dieser Mann neben ihm?
»In ein paar Minuten kommt Herr Dr. Billmeier zur Visite. Er wird Sie über alles informieren.«
*
Bachbunge, Moorsalat, die jungen Triebe des Giersch, wilde Brunnenkresse und dieses blaue Zeug – Gundel, Gundi – Herrschaftszeiten, wie hieß denn dieses hübsche Kraut mit den blauen Blüten noch einmal, das sie beim Weiherblasch zu den Flusskrebsen gegessen hatte? Nie im Leben hätte sich Dr. Halbritter vorstellen können, dass man all dieses Grünzeug, an dem man bei jedem Spaziergang vorbeiläuft, derart lecker zubereiten kann, und zweier Dinge ist sie sich sicher – erstens: sie wird sich bei nächster Gelegenheit ein Wildkräuterbuch kaufen, am besten eines mit Rezepten; zweitens: sie wird auf jeden Fall noch einmal in diesem hervorragenden Restaurant essen, und das innerhalb der nächsten drei Wochen – solange Gloßner noch in Lindau weilt.
Mattusch hatte am Telefon mehr als besorgt geklungen, sich natürlich dafür entschuldigt, sie aus ihrer wohlverdienten Sommerfrische zu reißen, ihr den Fall dann aber kurz skizziert und schließlich das ultimative Argument gezückt: »Kascha, wenn es einer schafft, an dieses Mädchen ranzukommen, dann du!«
Dr. Katharina Charlotte Halbritter, die seit ihrer Kindergartenzeit Kascha gerufen wird, ist Psychologin und Psychotherapeutin mit einer eigenen, seit vielen Jahren mehr als gut laufenden Praxis in der Steinstraße. Weshalb sie seinerzeit trotzdem noch ein Aufbaustudium in psychologischer Forensik und Kriminalpsychologie absolviert hat, weiß sie selbst nicht genau. Vielleicht sind die Gene schuld, immerhin war ihr Vater Jugendrichter am Nürnberger Amtsgericht, und über ihn hatte sie auch ihren ersten Auftrag als Gutachterin bekommen – wie lange liegt das nun schon wieder zurück?
Das Denken fällt unglaublich schwer bei diesen Temperaturen in der Innenstadt – von körperlicher Anstrengung ganz zu schweigen, sogar die sonst so munteren Spatzen auf dem Jakobsplatz sehen aus wie schlappe, fusselige Federbeutel – wie viel angenehmer war es doch in der Oberpfalz! Gerade als Kascha die schwere Glastür des Präsidiums öffnen will, sieht sie einen Jogger über den Platz laufen. Sein hageres, verbissenes Gesicht leuchtet genauso rot wie sein Shirt und ist ebenso verschwitzt. »Knallkopf«, denkt sie, »genau solche Leute holen sich um der Fitness willen einen Sonnenstich, halten dir aber Vorträge über gesunde Lebensführung! Adorno hatte recht: was nützt einem die ganze Gesundheit, wenn man ansonsten ein Idiot ist!«
Ein paar Minuten später sitzt sie einem stark schwitzenden, ebenfalls rotgesichtigen Helmut Mattusch gegenüber, der prustet wie ein Walross, als er ihr ein Glas Mineralwasser einschenkt.
»Das Mädchen hat sich also bislang überhaupt nicht zur Tat geäußert?«
»Nein. Weder zur Tat noch zu sonst irgendwas.« Mattusch streicht sich mit der Hand über den Bürstenschnitt. »Sie ist erst neunzehn Jahre alt, Kascha! Glaub mir, ich hätte dich nie aus dem Urlaub geholt, wenn es nicht so wichtig wäre.«
»Wer bearbeitet den Fall?«
»Hauptkommissar Kalz, du müsstest ihn noch von der Geiselnahme kennen, und eine neue Mitarbeiterin, Zoe Kandeloros.«
»Zoe wie? «
»Kandeloros. Sie ist noch recht jung, macht sich aber hervorragend. Im Gegensatz zu Kalz – du kannst dir sicher vorstellen, was ich damit meine.«
Dr. Halbritter kann es sich vorstellen. Sie hat die Auseinandersetzungen mit dem Ironman noch sehr gut in Erinnerung. Kalz ist ein seltsamer Typ, effektiv, aber sperrig, ein klassischer Einzelkämpfer und nur dann ein halbwegs erträglicher Teamarbeiter, wenn keine Frauen dabei sind – schon gar keine mit ’nem Psychotick! Für jemanden wie Kalz teilt sich die Welt ausschließlich in Gut und Böse, Schwarz oder Weiß, Zwischentöne haben darin keinen Platz. So eine Weltsicht hat viele Vorteile, man bleibt am Kern und kann sich besser aufs Wesentliche konzentrieren. In Kombination mit seiner langjährigen Erfahrung, seinem scharfen kriminalistischen
Weitere Kostenlose Bücher