Blaulicht
auf der linken. Ja, verdammt noch mal! – das ewige Getröte auf der Straße macht einen ganz kirre. Es klingt, als würde sich ein Heer mit mittelalterlichen Instrumenten auf eine Schlacht einstimmen, stumpf und gleichzeitig martialisch. Nur einzelne Vuvuzelas klingen wie kleine, erkältete Elefanten – wahrscheinlich fehlt den Bläsern einfach die nötige Puste oder die Hitze schlägt ihnen auf die Kondition. Noch eineinhalb Stunden bis zum Anpfiff Deutschland gegen Argentinien, sollte Deutschland gewinnen, wird sich die Stadt endgültig in einen brodelnden Hexenkessel verwandeln.
Es fällt ihr schwer, sich auf das Internetforum zu konzentrieren und sie merkt, wie auch ihr die tropischen Temperaturen der letzten Tage und Wochen allmählich auf die Kondition schlagen. Die meisten Dinge, die im ›Ballettforum Deutschland‹ von den Mitgliedern besprochen werden, sind für Zoe jedenfalls ein Buch mit sieben Siegeln, könnten genauso gut in Chinesisch oder Suaheli geschrieben sein: ›die grands battements der Maria Sowieso beim Wettbewerb da und dort seien zwar beeindruckend, aber nur deshalb, weil aus der Hüfte geworfen!‹ liest sie zum Beispiel oder eine Frage wie ›hat jemand einen Tipp, wie ich es schaffe, gewechselte en dedans und en dehors piqués tournants hinzubekommen, ohne die Diagonale zu verziehen?‹ – Zoe spielt immer noch leidenschaftlich gern Volleyball, die Welt der Ballettmädels ist ihr vollkommen fremd – komisch, es ist noch keine halbe Stunde her, da hat sie sich über ihren Chef amüsiert, jetzt fühlt sie sich plötzlich selbst sehr verloren in diesem Wust aus französischem Fachjargon, Satinspitzenschuhen und Tüllröckchen. Und wie wählt man sich eigentlich in die persönlichen Accounts der Mitglieder ein? Zoe klickt, scrollt mit der Maus den Bildschirm ab, landet nacheinander in den Rubriken Wettbewerbe, Stipendien, Workshops und Second-Hand-Verkauf und endlich bei »Einloggen«. Sie tippt Leonies Nickname ein: P-e-t-r-u-s-c-h-k-a und das dazugehörige Passwort, dann klickt sie auf Bestätigen . Auf dem Bildschirm erscheint ›Benutzername/Passwort stimmen nicht. Entweder existiert der Benutzername nicht oder du hast ein falsches Passwort eingegeben.‹ Also noch einmal von vorne. Zoe tippt mit dem Einfingersystem und achtet ganz genau auf jeden Buchstaben. Wieder erscheint derselbe Hinweis wie gerade eben.
Dies sind genau die Momente, in denen man den Computer nehmen und auf die Straße werfen will, oder noch besser: das Ding mit der Axt aus dem Feuerlöschkasten auf dem Flur lang und nachhaltig malträtieren – er soll leiden, er soll um Gnade winseln, der verdammte Kasten, diese neue und grausamste Plage der Menschheit! Schlimmer als Heuschreckenschwärme, Pest und Cholera zusammen, und ja, sie könnte …!
»Guten Tag, Frau Kovács, Kandeloros, Kripo Nürnberg. Ich war heute Vormittag bei Ihnen. Könnte ich bitte mit Leonie sprechen? Ich habe noch eine Frage an sie.«
Es ist immer gut, Mineralwasser zur Hand zu haben, das senkt auch die emotionale Temperatur. Ärgerlich nur, wenn auch dieser Weg versperrt ist, denn Frau Kovács »würde zwar liebend gern«, kann aber nicht verbinden, weil ihre Tochter seit einer Viertelstunde in der Probe für eine Aufführung ihrer Ballettschule in Fürth ist.
»Die Telefonnummer kann ich Ihnen geben. Aber ich kann Ihnen gleich sagen, dass da niemand rangeht, wenn die proben. Das Vergnügen hatte ich auch schon mal.«
Nachdem sich Zoe dreimal hintereinander die Durchsage des Anrufbeantworters angehört hat, muss sie einsehen, dass Frau Kovács mit ihrer Prognose recht hatte. Aber Wut hat nicht nur etwas Erhitzendes, sondern wirkt auch ungemein beschleunigend. Zoe braucht für die Hin- und Rückfahrt nach Fürth und ihre Stippvisite in der Welt der Tüllröckchen exakt 40 Minuten. Als sie mit dem richtigen Passwort in der schweißklebrigen Tasche wieder ins Büro rauscht, schaut sie direkt in die überraschten Augen von Kalz. Und der in das erschöpfte Gesicht seiner etwas zerrupft wirkenden neuen Kollegin.
»Immer noch im Dienst, Frau Kandelabros?« fragt er mit einem gereizten Blick auf seine Armbanduhr.
»Mit Ihnen hab ich gar nicht mehr gerechnet, Chef. Ich dachte, Sie wollten dieses Wochenende zum Marathonlauf nach – äh –«
»Nach Wegberg zum Westzipfel-Marathon, ganz richtig. Ich wäre auch schon auf dem Weg, wenn Sie Ihr Handy nicht auf dem Schreibtisch liegengelassen hätten!«
Ein dunkelbraunes Augenpaar
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