Blausäure
Zeiten.
Augenblicklich dachte er darüber nach, dass er im Grunde keine Ahnung hatte, wer dieser «junge George» eigentlich war. Bei den kurzen Gelegenheiten, bei denen sie sich in den letzten Jahren begegnet waren, hatten sie wenig Gemeinsamkeiten entdeckt. Race war der Typ, den es nach draußen, ins Freie drängte, Männer seines Schlags hatten das britische Empire aufgebaut – den größten Teil seines Lebens hatte er im Ausland verbracht. George hingegen war durch und durch Stadtmensch. Da ihre Interessen so unterschiedlich waren, tauschten sie bei ihren Begegnungen eher lauwarme Erinnerungen an «die guten alten Zeiten» aus, worauf meist verlegenes Schweigen folgte. Colonel Race war kein Mann des Small Talks – er war im Gegenteil das Urbild des wortkargen männlichen Mannes, den eine frühere Generation von Romanschriftstellern so goutiert hatte.
Auch in diesem Moment schwieg er. Im Stillen fragte er sich, warum «der junge George» auf dieser Verabredung bestanden hatte. Seit ihrem letzten Treffen vor einem Jahr hatte sich der Mann irgendwie verändert. George Barton war ihm immer wie die Inkarnation bürgerlicher Behäbigkeit vorgekommen – vorsichtig, pragmatisch, ohne jegliche Phantasie.
Heute aber, dachte er, stimmte etwas mit dem Burschen nicht. War nervös wie ‘ne junge Katze. Hatte seine Zigarre schon zum dritten Mal angezündet – das sah Barton gar nicht ähnlich.
Er nahm die Pfeife aus dem Mund.
«Nun, junger Freund, wo drückt der Schuh?»
«Sie haben Recht, Race, mich bedrückt etwas. Ich wollte Sie um Ihren Rat bitten – und Ihre Hilfe.»
Der Colonel nickte und wartete.
«Vor knapp einem Jahr waren Sie in London mit uns zum Essen verabredet – im Luxembourg. Im letzten Moment mussten Sie verreisen.»
Race nickte wieder.
«Nach Südafrika.»
«Bei der Feier starb meine Frau.»
Race rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her.
«Ja, ich weiß. Hab’s in der Zeitung gelesen. Wollte es jetzt nicht mehr erwähnen oder mein Beileid aussprechen, um die Wunde nicht aufzureißen. Aber es tut mir Leid, alter Freund, das wissen Sie.»
«O ja, natürlich, ja, ja. Darum geht es mir nicht. Man nahm damals an, dass meine Frau Selbstmord verübt habe.»
«Man nahm es an, sagen Sie? War es nicht so?», fragte Race mit hochgezogenen Brauen.
«Lesen Sie dies.»
Er drückte dem anderen die beiden Briefe in die Hand. Race zog die Augenbrauen noch höher.
«Anonyme Briefe?»
«Ja. Und ich glaube, was drin steht.»
Race schüttelte langsam den Kopf.
«Das ist eine gefährliche Sache. Wenn Sie wüssten, wie viele garstige Briefe voller Verleumdungen nach jedem Ereignis geschrieben werden, das nur ein bisschen Publizität in der Presse bekommen hat!»
«Ich weiß. Aber diese wurden nicht damals geschrieben – erst sechs Monate später.»
Race nickte.
«Eins zu null für Sie. Wer, glauben Sie, hat die Briefe geschrieben?»
«Das weiß ich nicht. Es ist mir auch egal. Aber ich glaube, dass der Inhalt stimmt. Meine Frau wurde ermordet.»
Race legte seine Pfeife ab. Er richtete sich in seinem Sessel auf.
«Warum genau glauben Sie das? Hatten Sie schon damals irgendeinen Verdacht? Oder die Polizei?»
«Als es geschah, war ich wie betäubt – vollständig vor den Kopf geschlagen. Ich habe nur das Ergebnis der Untersuchung zur Kenntnis genommen. Meine Frau hatte eine Grippe hinter sich, war stark geschwächt. Es gab keinen anderen Verdacht als Selbstmord. Das Zeug fand sich auch in ihrer Handtasche, wissen Sie.»
«Was war es?»
«Zyankali.»
«Ich erinnere mich. Sie nahm’s im Champagner zu sich.»
«Ja. Damals schien das alles recht schlüssig.»
«Hat sie je mit Selbstmord gedroht?»
«Nein, niemals. Rosemary – », sagte George Barton, «Rosemary liebte das Leben.»
Race nickte. Er war Georges Frau nur ein einziges Mal begegnet und hatte sie für eine ungewöhnlich hübsche dumme Gans gehalten – gewiss nicht der melancholische Typ.
«Wie lautete der gerichtsmedizinische Befund? Geisteszustand und so weiter?»
«Rosemarys Hausarzt – ein älterer Herr, der die Maries betreut hat, seit sie kleine Kinder waren – war damals auf einer Kreuzfahrt. Sein Assistent, ein junger Mann, kümmerte sich um Rosemary, als sie die Grippe hatte. Soweit ich mich erinnere, hat er damals ausgesagt, dass nach solchen Infekten durchaus schwere Depressionen vorkommen können.»
George machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach.
«Erst nachdem ich diese Briefe erhielt, setzte ich
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