Blausäure
Selbstmord konstatieren! So etwas käme nicht zum ersten Mal vor – tu doch nicht so!»
«Aber nur, wenn es um Politik ging – im Interesse des Staates. Dies ist eine rein private Angelegenheit. Ich zweifle sehr daran, dass ich so etwas tun könnte.»
«Du kannst, wenn du nur willst.»
Lord Kidderminster errötete zornig.
«Und wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun! Es wäre ein Missbrauch meiner gesellschaftlichen Stellung.»
«Wenn Sandra verhaftet und vor Gericht gestellt würde, würdest du dann nicht auch den besten Anwalt beauftragen und alles Erdenkliche unternehmen, um sie freizukriegen, wie schuldig sie auch immer wäre?»
«Aber sicher doch, sicher! Das ist etwas ganz anderes. Ihr Frauen werdet diese Dinge nie auseinander halten.»
Lady Kidderminster schwieg. Sie fühlte sich nicht getroffen. Von all ihren Kindern stand Sandra ihr am fernsten – gleichwohl war sie in diesem Moment Mutter, und nichts als Mutter – willens, ihr Junges mit allen Mitteln zu verteidigen, seien sie ehrenwert oder nicht. Sie würde mit Zähnen und Klauen für Sandra kämpfen.
«Wie auch immer, es wird keine Anklage gegen Sandra erhoben werden, wenn nicht absolut überzeugende Beweise gegen sie vorliegen», sagte Lord Kidderminster. «Und ich für meinen Teil weigere mich zu glauben, dass eine meiner Töchter eine Mörderin ist. Ich wundere mich über dich, Vicky, dass du so etwas auch nur für einen Augenblick denken kannst.»
Seine Frau sagte nichts, und Lord Kidderminster verließ den Raum mit einem unguten Gefühl. Allein der Gedanke, dass Vicky – seine Vicky – die er nun seit so vielen Jahren kannte – dass diese Vertraute seines Herzens plötzlich solche unerwarteten und wirklich sehr beunruhigenden Tiefen in sich barg!
Fünf
R ace fand Ruth Lessing, eifrig mit Papieren beschäftigt, an einem großen Schreibtisch vor. Sie trug ein schwarzes Kostüm mit einer weißen Bluse, und er war von ihrer ruhigen, gelassenen und tüchtigen Ausstrahlung beeindruckt. Er bemerkte die schwarzen Ringe unter den Augen und den unglücklichen Zug um ihren Mund, aber sie hielt ihren Schmerz, falls es Schmerz war, so gut unter Kontrolle wie all ihre anderen Gefühle auch.
Race erklärte den Grund seines Besuchs, und sie ging sofort darauf ein.
«Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie gekommen sind. Natürlich weiß ich, wer Sie sind. Mr Barton erwartete Sie gestern Abend, nicht wahr? Ich erinnere mich, dass er sagte, Sie würden später kommen.»
«Hat er das schon vor der Feier geäußert?»
Sie überlegte einen Moment.
«Nein. Er sagte es, als wir gerade unsere Plätze am Tisch einnahmen. Ich weiß noch, dass ich ein bisschen überrascht war – »
Sie hielt inne und errötete ein wenig.
«Natürlich nicht, weil er Sie einlud. Ich weiß, dass Sie ein alter Freund von ihm sind. Und Sie sollten ja auch zu der anderen Feier im vorigen Jahr kommen. Was ich meine, ist nur, dass ich mich wunderte, warum Mr Barton, wenn Sie kommen sollten, nicht noch eine Frau dazu eingeladen hatte, damit es ausgeglichen gewesen wäre – aber da Sie ja später kommen wollten und vielleicht gar nicht kämen – »
Sie brach ab.
«Wie dumm von mir! Warum sollten wir uns mit diesen ganzen Nebensächlichkeiten aufhalten! Heute Morgen bin ich wirklich dumm.»
«Aber Sie sind wie gewöhnlich zur Arbeit gekommen?»
«Natürlich.» Sie sah erstaunt aus – beinahe schockiert. «Es ist mein Job. Es gibt so viel zu klären und zu erledigen.»
«George hat mir oft gesagt, wie sehr er sich auf Sie verließ», sagte Race sanft.
Sie wandte sich ab. Er sah, wie sie schluckte und kurz die Augen schloss. Die Tatsache, dass sie so gut wie keine Gefühle zeigte, überzeugte ihn fast völlig von ihrer Unschuld. Fast, aber nicht ganz. Er war in seinem Leben schon großartigen Schauspielerinnen begegnet, Frauen, deren gerötete Augenlider und schwarze Schatten darunter sie der Kunst und nicht natürlichen Ursachen verdankten.
Mit dem endgültigen Urteil wollte er noch warten.
«Jedenfalls ist sie eine coole Kundin», dachte er bei sich.
Ruth wandte sich wieder dem Schreibtisch zu und antwortete ruhig auf seine letzte Feststellung:
«Ich habe viele Jahre für ihn gearbeitet – im April wären es acht –, und ich wusste, was er wollte, und glaube, dass er – mir vertraute.»
«Davon bin ich überzeugt.»
Er fuhr fort:
«Es ist gleich Mittagszeit. Ich hatte die Hoffnung, dass Sie mit mir zum Lunch gehen würden, irgendwohin, wo es
Weitere Kostenlose Bücher