Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blauwasserleben

Blauwasserleben

Titel: Blauwasserleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Dorsch
Vom Netzwerk:
wieder, dann fuhr er heiser fort. »Als wir dann
nichts von euch hörten, nahmen wir an, dass ihr nicht mehr am Leben seid … «
    Â»Wir sind nicht tot«, sagte Stefan. In seinen Augen spiegelte sich
der Schrecken, den seine Eltern und sein Bruder erlebt haben mussten, als sie
von den Ausmaßen des Unglücks in Khao Lak hörten.
    Wie musste es meinen Eltern ergangen sein?
    Â»Stefan, ich muss meine Eltern anrufen«, flüsterte ich ihm zu,
obwohl ich immer noch nicht wirklich begreifen konnte, was sich an der Küste
abgespielt haben musste – außer den seltsamen Rückwellen und der tristen
Unterwasserwelt hatten wir keine Anzeichen für eine derartige Katastrophe
gesehen.
    Stefan beendete das Gespräch, sagte, dass er sich wieder melden
würde.
    Meine Mutter bekam kein Wort heraus, als sie meine Stimme hörte. Sie
stand noch unter Schock, so sehr hatte sie alles mitgenommen. Deshalb drückte
sie den Hörer meinem Bruder Thomas in die Hand, der direkt neben ihr gestanden
haben musste, denn ich hörte ihn sofort: »Heike, bist du es wirklich?« Als
Thomas begriff, dass keine Tote mit ihm sprach, sagte er: »Macht, dass ihr da
schnellstmöglich rauskommt. Es droht Seuchengefahr.«
    Weil wir noch immer nichts vom Ausmaß des Unglücks gesehen hatten,
wurden wir das Gefühl nicht los, man würde in Deutschland wohl übertreiben.
Noch immer hatten wir nichts Ungewöhnliches gesehen, außer einigen lose
umhertreibenden Ästen und Holzlatten.
    Unsere Einschätzung änderte sich aber radikal, als wir die Küste
erreichten. Die Besatzungsmitglieder der Tauchboote fingen an, mit langen
Stöcken durchs Wasser zu fahren. Überall schwammen Matratzen herum, zerfetzte
Palmblätter, Schubladen, Stuhlbeine, Hüttendächer, Autoschrott, Plastikteile in
allen Farben. Uns umgab ein gigantisches Müllfeld. Stumm betrachteten wir das,
was augenfällig nicht mehr unter »normal« verbucht werden konnte. Hier war
einmal ein ganzes Dorf gewesen, das durch die Gewalt des Wassers verwüstet,
zerstört und in seine Einzelteile aufgelöst worden war.
    Â»Was suchen die Tauchcrews denn?«, fragte ich, unser Schweigen
durchbrechend.
    Stefan brachte nur ein Wort heraus: »Leichen.«
    Ãœberhaupt war nun keinem mehr an Bord nach Reden, keiner wusste, was
er sagen sollte. Kurz zuvor war alles in Ordnung gewesen, wir wähnten uns in
einem Taucherparadies – und nun setzten sich die Besatzungsmitglieder auf
einmal an die Reling und fingen an zu weinen. Sie hatten erfahren, dass
Tauchlehrer und Freunde aus ihrer Crew, die an Land geblieben waren, nicht mehr
lebten.
    Das Grauen wurde, als wir die Küste erreichten, unerträglich. Wir
kehrten in eine Welt zurück, die sich in kürzester Zeit in ein einziges Chaos
verwandelt hatte. Schiffe lagen wie gestrandete Wale meterweit im Landesinnern.
Wo früher Gebäude gestanden hatten, waren nur noch Mauerreste übrig. »Stefan,
lass uns Wasser und Bananen vom Bordproviant einstecken«, sagte ich, bevor wir
aus dem Boot kletterten. »Wer weiß, was uns erwartet.«
    Während wir zurück zur Tauchbasis und dem nahe gelegenen Hostel
gingen – beide Einrichtungen lagen hoch oben in der Bucht und waren nicht
verwüstet worden –, sahen wir an den Straßenrändern die Leichenberge, von denen
Simon gesprochen hatte. Überdeckt mit Tüchern. Unsere Unterkunft hatte dennoch
geschlossen: Der Inhaber der Herberge hatte seine beiden Töchter verloren. Wir
machten uns auf den Weg zur Tauchstation, wo wir unsere Rucksäcke deponiert
hatten. Die Station war geöffnet, aber es herrschte ein Durcheinander, dass wir
nur rasch unser Gepäck nahmen und weiterzogen.
    Nun standen wir da, mitten auf einer Straße, und wussten nicht,
wohin. Leute traten auf uns zu, als sie bemerkten, dass Stefan ein Handy besaß.
Sie baten darum, telefonieren zu dürfen. Stefan nickte, meinte nur, man solle
sich möglichst kurz halten, denn es gäbe ja keinen Strom, er könne das Handy
nirgends aufladen und der Akku sei schon so gut wie leer. Von den Leuten
erfuhren wir, dass die Welle nur eine Stunde nach dem Auslaufen unseres
Tauchboots über die Küste gerollt war. Uns zitterten die Knie, als wir das
hörten. Jetzt verstanden wir auch die Rückwellen, die wir auf dem offenen Meer
gesehen hatten. Die Welle war unter uns hindurchgetaucht, und da

Weitere Kostenlose Bücher