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Blauwasserleben

Blauwasserleben

Titel: Blauwasserleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Dorsch
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der
Meeresboden unter unserem Boot besonders tief war, hatten wir das Ansteigen des
Meeresspiegels überhaupt nicht bemerkt.
    Immer wieder begegneten wir Menschen, die sich gerade noch hatten
retten können, auf Dächer, Autos oder Baumwipfel, und hörten von anderen, denen
es nicht gelungen war. Fast jede Familie trauerte um einen Menschen,
mindestens. In den Tempeln, so hieß es, würden viele noch nicht identifizierte
Tote liegen. Es hingen Listen mit den Namen derjenigen aus, die vermisst
wurden. Wir sahen zwei Teenager mit vom Weinen aufgedunsenen Gesichtern, die
von Tempel zu Tempel zogen, auf der Suche nach ihrer Mutter. Auch traf ich auf
eine Frau aus Frankfurt. Jedes Jahr, so erzählte sie, käme sie nach Khao Lak
zum Tauchen, und das schon seit zehn Jahren. Jedes Mal sei sie mit ihrem Mann
und sechzehn gemeinsamen Freunden hierhergekommen. Keinen Einzigen aus dieser
Gruppe hätte sie bislang ausfindig machen können, auch ihren Ehemann nicht. Als
sie die Welle sah, sei sie davongerannt, wäre aber in der Panik in einen
Wasserlauf gefallen. Die Welle wäre dann über sie hinweggegangen. Schließlich
hätte sie ein Thailänder aus dem Wasser gerettet.
    Noch Wochen später musste ich immer wieder an diese Frau denken. Sie
hatte sehr viel Glück gehabt, ihre Freunde nicht. Nun zog auch sie wie die
beiden Mädchen von Tempel zu Tempel, um sich die Leichen anzusehen. Sich die
Not fremder Menschen anzuhören, ein offenes Ohr für ihre Schicksale zu haben,
das war im Moment das Einzige, womit wir helfen konnten.
    Die Frau aus Frankfurt und die Mädchen hatten die wertvollsten
Menschen ihres Lebens verloren. Uns hingegen fehlte rein gar nichts. Wir waren
nicht verletzt, wir hatten unseren Rucksack, unsere Pässe, unser Geld. Wir
kamen nicht mal auf die Idee, Letzteres zu verteilen, so überfordert waren wir
von dem, was um uns herum passierte.
    Am Abend zeigte man uns ein Haus, in dem wir übernachten konnten.
Dieses Gebäude lag unterhalb der Straße, im Gebiet der Verwüstungen. Es war
umgeben von Trümmern, erstaunlich, dass es überhaupt noch stand. Die Toilette
konnte nicht benutzt werden, es gab kein fließend Wasser, Strom sowieso nicht.
    Ãœberwältigt von den Bildern in meinem Kopf, kamen mir die Tränen.
Ein junger Mann sprang von seiner Bettstatt auf, nahm meine Hand, führte mich
zu seiner Matratze und sagte: »Leg dich da hin.« Als ich mich ausgestreckt
hatte, berichtete er mir, dass er 24 Stunden lang Leichen auf Lkws geladen
hätte.
    Â»Wusstest du denn, dass sie wirklich tot waren?« Durch seine offenen
Worte hatte ich mich wieder fassen können.
    Â»Ja«, behauptete der junge Mann. »Ein Arzt hat sie sich angeschaut.
Er entschied, ob man noch Hilfe leisten oder nur noch den Tod feststellen
konnte.«
    Es beschämte mich, dass er sein Bett für mich geräumt hatte. Ich
hatte nicht unentwegt Leichen auf Lkws gehievt, und deshalb sagte ich: »Nein,
das geht nicht. Du bist viel erschöpfter als ich, leg dich bitte wieder in dein
Bett.« Aber er bestand darauf, dass ich dort blieb, wo ich war. Er selbst legte
sich auf den Boden.
    Schlaf fand ich in dieser Nacht kaum. Immer wieder lauschte ich
angestrengt auf die Wellen, die gegen die Felsen klatschten. Jeden Moment
dachte ich: Jetzt kommt die nächste Welle. Sie wird höher sein als die
vorherige. Ich will nicht sterben. Erneut kamen mir die Tränen. Aber sie
flossen nicht nur bei mir. Viele andere Menschen, die mit uns in dem Raum untergebracht
waren, weinten ebenfalls.
    Stefan und ich überlegten, in Thailand zu bleiben und den Menschen
hier zu helfen. Aber solange der Akku noch durchhielt, kamen immer wieder
Anrufe von unseren Familien: »Verlasst bitte das Land! Wir wollen euch in die
Arme schließen!« Keiner von uns beiden hatte den Drang, nach Deutschland zu
fliegen, aber wir hatten das Gefühl, dass unsere Familien uns brauchten. Und
nach den Stunden des Bangens war das verständlich. Somit war unsere
Entscheidung gefallen.
    Obwohl unzählige Menschen obdachlos geworden waren und alles
verloren hatten, ließ man niemanden im Stich. Selbst wir wurden von einem
Thailänder gefragt, ob er uns irgendwo hinbringen könne. Wir sagten ihm, dass
wir nach Phuket wollten, zum Flughafen. Er fuhr uns einfach hin. Knapp neunzig
Kilometer, ohne das Geld anzunehmen, das wir ihm geben wollten. Das wäre, als
würde ein Bayer im

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