Bleakhouse
es sich schmecken ließ und mit welchem Anstand und welcher Feierlichkeit sie sich dabei benahm, daß ich bald an weiter nichts dachte.
Als wir fertig waren und unser bescheidenes Dessert vor uns stand, mit Blumen geschmückt von den Händen meines Lieblings, war Miß Flite so heiter gestimmt und gesprächig, daß ich auf den Einfall kam, sie auf ihre eigne Lebensgeschichte zu bringen, denn ich wußte, daß sie immer gern von sich sprach.
Ich fing mit der Frage an: »Sie haben den Lordkanzler wohl schon viele Jahre besucht, Miß Flite?«
»Oh, viele, viele, viele Jahre, meine Liebe. Aber ich erwarte ein Urteil. Binnen kurzem.«
Selbst aus ihrem hoffnungsfreudigen Wesen blickte jetzt eine schmerzliche Spannung durch und ließ mich zweifeln, ob ich recht getan hätte, die Sache erwähnt zu haben. Ich nahm mir vor, lieber nicht mehr davon anzufangen.
»Mein Vater erwartete schon ein Urteil«, fuhr Miß Flite nach einer Weile fort. »Mein Bruder, meine Schwester, sie alle erwarteten ein Urteil. Dasselbe, das ich erwarte.«
»Sie sind alle...«
»Jaaaa. Tot natürlich, meine Liebe.«
Da ich sah, daß sie durchaus fortfahren wollte, hielt ich es für das Beste, doch auf das Thema einzugehen, anstatt ihm auszuweichen.
»Wäre es nicht vielleicht klüger«, sagte ich, »nicht länger auf dieses Urteil zu warten?«
»Natürlich, meine Liebe«, antwortete sie auf der Stelle, »wäre es das.«
»Und den Gerichtshof nicht länger mehr zu besuchen.«
»Ebenso natürlich. Es ist sehr aufreibend, immer auf etwas zu warten, das nie kommt, meine liebe Fitz-Jarndyce! Aufreibend bis auf die Knochen, versichere ich Ihnen.«
Sie zeigte mir einen Augenblick ihren Arm, der wirklich schrecklich abgezehrt aussah.
»Aber, meine Liebe«, fuhr sie geheimnisvoll fort, »der Ort übt eine schreckliche Anziehungskraft aus. Still! Erwähnen Sie nichts davon gegen unsre kleine Freundin, wenn sie hereinkommt. Es könnte sie erschrecken. Mit gutem Grund. Der Ort übt eine grausame Anziehungskraft aus. Sie können ihn nicht verlassen. Sie müssen auf etwas warten.«
Ich versuchte, ihr das auszureden. Sie hörte mich geduldig und lächelnd an, war aber gleich mit ihrer Antwort zur Hand.
»Jajaja! Sie denken so, weil ich etwas zerstreut bin. Seh-r absurd, so zerstreut zu sein, nicht wahr? Und seh-r konfus. Im Kopf. Es kommt mir so vor. Aber, meine Liebe, ich bin seit vielen Jahren dort und habe scharf acht gegeben. Es geht von dem Szepter und dem Siegel auf dem Tisch aus.«
»Wieso von dem Szepter und dem Siegel?« fragte ich.
»Sie saugen und ziehen! Sie ziehen die Leute an, meine Liebe. Ziehen den Frieden aus ihrer Seele. Den Verstand. Das gute Aussehen. Die guten Eigenschaften ziehen sie heraus. Ich habe gefühlt, wie sie mir sogar in der Nacht die Ruhe entzogen. Kalte und glitzernde Teufel.«
Sie tippte verschiedne Male auf meinen Arm und nickte mir gutmütig zu, als liege ihr wohl viel daran, mich zu überzeugen, daß ich aber keine Ursache habe, mich vor ihr zu fürchten, wenn sie mir so düstere und schreckliche Geheimnisse anvertraute.
»Warten Sie «, sagte sie, »ich will Ihnen meine eigne Geschichte erzählen. Ehe sie mich anzogen, die glitzernden Teufel, womit beschäftigte ich mich da? – Mit Tambourinspielen? Nein, Tambourarbeit allerdings. Ich und meine Schwester machten nämlich Tambourierstickerei. Unser Vater und unser Bruder waren Baumeister. Wir wohnten alle zusammen. Seh-r respektabel, meine Liebe. Zuerst zogen sie meinen Vater weg. Langsam. Die ganze Häuslichkeit zog es mit ihm. In wenigen Jahren war er ein mürrischer, verbitterter, bankrotter Mann, der für niemanden ein gutes Wort oder einen freundlichen Blick mehr hatte.
Früher war er so ganz anders gewesen, Fitz-Jarndyce! Es zog ihn ins Schuldgefängnis. Dort starb er. Dann zog es unsern Bruder – rasch – zur Trunksucht und Herabgekommenheit. Und Tod. Dann zog es meine Schwester. Still. Fragen Sie mich nicht, zu was. Dann wurde ich krank. Und darbte. Und ich hörte, wie schon oft vorher, daß all das das Werk des Kanzleigerichts sei. Als ich mich erholte, sah ich mir das Ungeheuer an. Und dann entdeckte ich, wie es war, und es zog mich, dort zu bleiben.«
Nach und nach, wie sie mit der kurzen Schilderung ihres Lebens fertig wurde, mit unterdrückter gepreßter Stimme sprechend, als stünde all das Leiden noch in frischer Erinnerung vor ihr, und zu Ende kam, nahm sie ihre gewohnte Miene liebenswürdiger Wichtigtuerei wieder an.
»Sie schenken mir
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