Bleeding Violet - Niemals war Wahnsinn so verfuehrerisch
Wyatt ablenkt. Er war Donnerstag und Freitag nicht in der Schule. Ich hatte mich so drauf gefreut, ihn wegzuekeln, aber er hatte nicht mal genug Anstand aufzutauchen.«
Ich starrte düster auf den grünen Angoramantel, den ich ihm gemacht hatte. Er hing auf einem Metallkleiderständer an der Wand. Dabei würde ich am liebsten ihn an die Wand stellen, mit einem Erschießungskommando im Rücken. »Ich hasse Jungs.«
»Das ist meine Schuld.« Rosalee saß auf meinem flachen Bett und sah mir dabei zu, wie ich den Saum des Kleids feststeckte. »Jungshassen ist genetisch bedingt.«
Ich seufzte tief betrübt. »Da wächst man also nicht raus?«
»Ich jedenfalls nicht, und ich bin sechsunddreißig. Vielleicht mit vierzig?« Sie warf mir einen ironischen Blick zu. »Oder vielleicht, wenn du aufhörst, dich so feige vor der Therapie zu drücken.«
Ich stach mir den Finger an einer der Nadeln.
»Glaub bloß nicht, ich hätte nicht gemerkt, dass du deinen Termin am Mittwoch hast sausen lassen«, fuhr sie fort. »Du weißt, dass ich für die Termine zahlen muss, auch wenn du nicht hingehst?«
Sie zog ihre Osterinselnummer ab und wartete auf eine Antwort. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich gehe diesen Mittwoch. Ich versprech’s.« Ein leichtes Versprechen. Mittwoch war noch Tage entfernt.
Mein Handy piepte.
»Gehst du nicht ran?«
»Wenn ich mit dem Saum fertig bin«, sagte ich. »Wer schnell auflegt …«
»Kann nichts Wichtiges gewollt haben.« Rosalee schnaubte. »Järvinens.«
Ich machte den Saum fertig, schnappte mir das unermüdlich piepende Telefon vom Nachttisch und ließ mich neben Rosalee aufs Bett fallen.
»Wer ist es?«, fragte sie und sah mir über die Schulter.
»Wyatt.« Ich zeigte ihr die SMS .
»Was bedeutet BDD ?«
»Bist du da«, erklärte ich. Ich tippte NEIN !
Das Telefon piepte wieder. » TML ?«, fragte Rosalee.
»Tut mir leid.« Ich tippte UND ?
Als er mir zurückschrieb, sagte Rosalee: »Gott, hat der Junge noch nie was von Vokalen gehört?«
Also übersetzte ich es ihr.
»›Du brauchst mich nicht, aber ich brauche dich. Einziges Mädchen, dem ich traue. Einziges Mädchen, mit dem ich reden kann. Einziges Mädchen, das meine freakige Art versteht.‹«
»Freakig?«, fragte Rosalee fasziniert.
»Lange Geschichte«, sagte ich und übersetzte weiter. »›Bitte sei meine Freundin. Du musst mich nicht teilen.‹«
»Mit wem teilen?«
»Petra«, erklärte ich. »Seine Ex. Er kann nicht so recht loslassen.« Ich sah nachdenklich auf das leuchtende Handydisplay. »Aber darum geht’s ja. Wie kann ich mir sicher sein, dass er wirklich über sie hinweg ist?«
»Er soll mit dir in die Kirche gehen«, sagte Rosalee. »Kein Typ geht mit dir vor Gott und seiner Familie und allen Leuten in die Kirche, wenn er es nicht wirklich ernst mit dir meint.«
Ich tippte Rosalees Vorschlag ein, und Wyatt antwortete sofort mit OK .
»Er hat nicht mal gezögert, siehst du? Das ist ein gutes Zeichen.«
»›Nächsten Sonntag‹«, las ich. »›Messe um elf‹.«
Vielleicht würde ich ihm doch das Erschießungskommando ersparen.
»Komm mit zur Kirche und lern ihn kennen«, sagte ich und warf das Handy auf den Nachttisch.
Rosalee zog die Augenbrauen hoch. »Ich hab ihn schon kennengelernt.«
»Wann?«
»Auf der Veranda.«
Ich dachte daran zurück. »Du meinst, nachdem du dieser Schlange dein Knie in die Weichteile gerammt hast und an uns vorbei ins Haus geflattert bist, ohne Hallo zu sagen oder Wyatt auch nur anzusehen?«
Sie zuckte die Schultern. »So lerne ich Leute kennen.« Als ich sie ansah, sagte sie ungnädig: »Na schön . Dann lern ich ihn eben kennen.« Sie ließ sich auf die Daunendecke fallen und lümmelte sich elegant. »Ich war nicht mehr in der Kirche, seit ich so alt war wie du. Ich habe nicht einmal Sonntagskleidung.«
Ich zeigte auf die Schneiderpuppe. »Das kleine schwarze Kleid?«
»Das will ich nicht an die Kirche verschwenden. Abgesehen davon kann man Schwarz nicht in der Kirche tragen.«
»Wirklich?«
»Es ist der einzige Tag in der Woche, an dem es okay ist, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und zu schillern. Die Idee dahinter ist: Wenn du im Hause des Herrn nicht vor Monstern sicher sein kannst, dann kannst du es nirgendwo.«
»Dann mache ich dir ein rotes Kleid.«
Ihr Gesicht leuchtete auf. »Ich liebe Rot.«
»Ist mir schon aufgefallen.« Ich schnappte mir mein Notizbuch, legte mich neben sie und machte eine Zeichnung von dem Kleid, damit sie sehen konnte, wie
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