Bleib bei mir, kleine Lady
aufhielt. Ob sie von jemandem gesehen wurde oder nicht, spielte keine Rolle.
Erwachsen werden ist langweilig und mühsam, hatte sie damals gedacht und fand es eigentlich immer noch.
Aus welchem zwingenden Grund sollte sie eigentlich jetzt schon ans Heiraten denken, und wieso befand sie sich eigentlich in dieser mißlichen Situation? Sie war zwar weiß Gott nicht daran schuld, aber sie mußte es ausbaden.
Ehe der Herzog um ihre Hand angehalten hatte, war sie glücklich und zufrieden gewesen. Es hatte keine Gouvernante mehr gegeben, die pausenlos an ihr herumgekrittelt hatte, und es hatte ihr gefallen, in London auf Partys gehen zu dürfen.
Die letzten drei Wochen, die sie dort verbracht hatte, um ihre Garderobe zu vervollständigen, waren lediglich wegen ihrer Stiefmutter getrübt gewesen.
Gracila hatte neue Freundschaften geschlossen, hatte mit den jungen Leuten aber nicht zusammen sein dürfen, weil ihre Stiefmutter bereits Gracilas Heirat im Auge gehabt hatte.
„Du kannst nach London zurückkommen, wenn die Saison beginnt“, hatte sie gesagt, als Gracila nicht aufs Land hatte zurückfahren wollen.
„Und wann beginnt die neue Saison?“
„Im April.“
Im April jedoch war sie bereits verlobt gewesen. Obwohl die Dauer einer Verlobung üblicherweise mindestens ein Jahr betrug, hatte man Gracilas Hochzeit für den 31. Mai angesetzt.
„Wieso lange warten?“ fragte ihre Stiefmutter. „Als Herzogin wirst du im Buckingham Palace empfangen, und ich brauche dich nicht erst als Debütantin in die Gesellschaft einzuführen.“
Es klang vernünftig. Trotzdem hatte Gracila das Gefühl gehabt, gedrängt zu werden, was sie aber natürlich nicht ausgesprochen hatte.
Doch jetzt war sie frei. Und am vergangenen Abend hatte sie beschlossen, daß sie sich keine Gedanken über ihre weitere Zukunft machen würde.
Bisher war das Glück auf ihrer Seite gewesen, und das war die Hauptsache.
Als sie vorhin das Haus verlassen hatte, war sie sich wie ein Vogel vorgekommen, der nach langer Gefangenschaft aus dem Käfig hatte fliegen dürfen.
Sie hatte kein Häubchen aufgesetzt und war nach dem Frühstück einfach davongelaufen, ehe Mrs. Hansell ihr noch hatte irgendwelche Instruktionen geben können.
Sie hatte zwar ein schlechtes Gewissen, war aber gleichzeitig froh, einmal das tun zu können, wozu sie Lust hatte.
Gracila bückte sich, tauchte die Hand ins Wasser und beobachtete, wie die Forellen flohen und sich unter Steinen versteckten.
Veilchen blühten am Rand des Baches, und aus dem Wald kam Tannenduft. Die Luft war voll Frühling.
Gracila wanderte weiter. Sie folgte dem Lauf des Baches, bis das Unterholz so dicht wurde, daß die Sonne nicht mehr durch das Blätterwerk dringen konnte.
Die Szenerie sah geheimnisvoll und romantisch aus, aber gleichzeitig etwas düster, und Gracila sehnte sich nach dem Licht der Sonne.
Sie ging zurück und setzte sich an einer Stelle, die sonnig und warm war, ins Gras. Mrs. Hansells Ermahnung hatte sie vergessen.
Sie pflückte ein paar Veilchen, legte sie in den Schoß und überließ sich ihren Träumereien.
In diesen Träumereien erfand sie Geschichten, die sie sich selbst erzählte und in denen sie die Hauptperson war.
Es waren glückliche Geschichten, voll von den mythischen Göttern, die sie aus Büchern kannte. Diese Götter waren viel aufregender als die Menschen, die sie kannte. Sie waren von Märchengestalten umgeben von Nymphen und Elfen, von Zwergen und Faunen, von Hexen und Riesen.
Die Flucht in dieses Traumland ließ sie alle Sorgen vergessen.
Es mußten gut zwei Stunden vergangen sein, als Gracila plötzlich merkte, daß sich zu dem Summen der Bienen, zum Plätschern des Baches, zum Ruf der Wildtauben und zum gelegentlichen Rascheln in den Blättern ein neues Geräusch gemischt hatte.
Im ersten Augenblick wußte sie nicht, was es sein konnte.
Doch dann merkte sie, daß es Huf schlage waren.
Niemand darf mich hier sehen, dachte sie und sah sich nach einem Versteck um.
Wenn sie in den Wald hineinlief, würde sie vielleicht ihr helles Kleid verraten, aber wohin sollte sie sich sonst wenden?
In ihrer Not sah sie in die Höhe, und da wußte sie es.
Über ihr – die Krone eines Holzapfelbaums …
Gracila konnte gut klettern. Wie oft hatte sie sich als Kind in einem Baum versteckt, wenn sie vor einer Gouvernante oder ihrer Kinderfrau Ruhe haben wollte …
Kurz entschlossen raffte Gracila die Röcke und kletterte auf den knorrigen Baum. Die vielen Äste und
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