Bleib bei mir, kleine Lady
Verzweigungen machten es ihr leicht. Sie stieg höher und höher, bis sie schließlich in einer Astgabel sitzen blieb. Wenn der näherkommende Reiter nicht zufällig in die Höhe sah, wurde sie hier keinesfalls entdeckt.
Sie hatte es sich gerade relativ bequem gemacht, als der Reiter auch schon auftauchte.
Ein Blick genügte, und Gracilas Herz schlug ihr bis zum Hals hinauf. Ohne ihr Zutun war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen.
Endlich sah sie Lord Damien.
Wie sie selbst trug er keine Kopfbedeckung. Sein dichtes dunkles Haar war aus der Stirn gekämmt, seine Haut von der Sonne gebräunt.
Erst als er sein Pferd ein paar Meter vor dem Stamm des Baums anhielt, auf dem sie saß, konnte sie sein Profil sehen – eine schmale, aristokratische Nase, energisch geschwungene Lippen, die seinem Gesichtsausdruck etwas Gebieterisches verliehen, arrogant geschwungene Brauen.
Genauso hatte sich Gracila diesen Mann vorgestellt, der die Neugier ihrer Jugend erfüllt hatte.
Die Ähnlichkeit mit Lord Byron war frappant. Trotz der klassischen Züge hatte die Gestalt Lord Damiens etwas unglaublich Romantisches an sich.
Genau wie ich, dachte Gracila, sieht er den Forellen zu.
Von der einen Sekunde zur anderen verstand sie, warum die Frauen, von ihrer Stiefmutter angefangen bis zu den kleinsten Stubenmädchen, über Lord Damien redeten.
Nie in ihrem Leben hatte sie einen so attraktiven Mann gesehen. Kein Wunder, daß sein Name von Skandalgeschichten umwoben war … Kein Wunder, daß die Marquise mit ihm weggelaufen war und sich die Aufregung darüber bis heute nicht gelegt hatte … Kein Wunder, daß dieser Mann in Paris, Venedig, Rom, Neapel und Palermo so große Erfolge erzielt hatte …
Wer konnte diesem Übermaß an Schönheit widerstehen?
Lord Damien ritt weiter.
In wenigen Sekunden mußte er unter dem Ast sein, auf dem sie saß, und sein Kopf würde ihr ganz nahe sein.
Gracila hielt den Atem an. Sie hätte etwas darum gegeben, wenn sie nicht ausgerechnet auf diesen Baum geklettert wäre.
Warum war sie nicht doch in den Wald gelaufen und hatte sich dort irgendwo versteckt?
Unter dem Holzapfelbaum angekommen, mußte er den Kopf beugen, um nicht von den tiefhängenden Zweigen gestreift zu werden.
In dem Bach neben ihm leuchtete plötzlich etwas auf, das ihn veranlaßte, erneut stehenzubleiben.
Ein Königsdorsch hatte seine Aufmerksamkeit gefesselt. Er betrachtete den Fisch, den auch Gracila in dem Bach hatte an sich vorbeihuschen sehen, voll Bewunderung.
Gracilas Herz klopfte so stark, daß es ihr die Brust zu sprengen schien. Lord Damien war ihr so nahe, daß sie das dunkle Haar hätte berühren können.
Er trug Reithosen, eine kurzgeschnittene Jacke und ein offenes Hemd, wie es im letzten Jahr Mode geworden war. Gracila erinnerte sich noch genau daran, wie entsetzt ihr Vater über diese Mode gewesen war.
Ihre Stiefmutter hatte ihn damals ausgelacht.
„Du bist viel zu konservativ in deiner Einstellung“, hatte sie gesagt. „Sogar Prinz Albert hat am Tag nach seiner Hochzeit ein solches Hemd getragen – weil er Königin Victoria ärgern wollte.“
„Das glaube ich nicht“, hatte Gracilas Vater entgegnet. „Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Aber mir kann es ja egal sein. Auf alle Fälle betritt kein Gentleman mein Haus, der nicht ordentlich gekleidet ist.“
Gracila wußte, daß der offene Kragen durch Lord Byron in Mode gekommen war, und fand, daß auch Lord Damien wie ein Poet aussah, mußte aber gleichzeitig feststellen, daß etwas dieses Aussehen trübte. Da sie jedoch so aufgeregt war, wußte sie nicht, was es war.
Der Königsdorsch war verschwunden, und Lord Damien hob die Hand, weil er die Zügel straffen und weiterreiten wollte.
Und während er die Hand hob, sah er hoch.
Er mußte die Nähe eines anderen Menschen gespürt haben.
Beim Anblick eines ovalen Gesichtes in den Blättern, eines kleinen Gesichts mit großen blauen Augen, ließ er die Zügel sinken.
Es folgte eine Stille, die Gracila endlos erschien.
Und dann brach Lord Damien das Schweigen.
„Sind Sie Daphne auf der Flucht vor Apoll oder ein flüchtiger Meteor?“ fragte er.
Seine Stimme klang tief und leicht amüsiert.
Gracila war so erschrocken, daß sie kein Wort herausbrachte.
Doch als langsam in ihr Bewußtsein eingesickert war, daß der ›flüchtige Meteor‹ aus einem Gedicht Lord Byrons stammte, das sie erst noch vor kurzem gelesen hatte, löste sich ihre Zunge.
„Ich bin ein flüchtiger Meteor“, antwortete
Weitere Kostenlose Bücher