Bleib bei mir, kleine Lady
also gehen?“
„Ich muß gehen“, sagte Lord Damien, und seine Stimme klang ruhig, aber endlos traurig.
„Aber wie soll ich ohne dich leben können?“ fragte Gracila verzweifelt. „Wie kann ich je wieder glücklich sein – ohne dich?“
„Du bist sehr jung, Gracila“, sagte Lord Damien. „Die Jugend vergißt.“
„Hast du vergessen?“
Ein schwaches Lächeln glitt über seine Lippen.
„Du bist nicht nur wunderschön, meine geliebte Gracila, du bist auch klug, und das ist ein weiterer Grund, warum ich dich liebe. Nein, ich habe nicht vergessen können. Aber ich glaube, daß du es können wirst, und ich tue nur das, was ich für richtig halte und was deine Mutter gutheißen würde, wenn sie noch am Leben wäre.“
„Mama würde mich glücklich sehen wollen.“
„Sie würde vor allem wollen, daß du nicht den Weg nach unten wählst, Gracila, und das würdest du tun, wenn du mich heiratest.“
Gracila war von seinem Blick gefangen. Obwohl er sie noch in den Armen hielt, spürte sie, wie er sich von ihr entfernte.
„Bitte, bitte heirate mich“, flehte sie.
Er zog sie näher an sich, und Gracila glaubte, er wolle sie küssen.
Statt dessen legte er jedoch lediglich eine Wange an ihre Stirn.
„Wir müssen uns trennen, meine geliebte Gracila“, sagte er mit tieftrauriger Stimme. „Jetzt und für immer.“
6
Gracila stand in ihrem kleinen Salon und wartete.
Immer wieder sah sie auf die Uhr auf dem Kaminsims, denn sie wußte, daß sie um zehn vor elf in den Garten hinausgehen konnte.
Am Tag zuvor, als Lord Damien ihr gesagt hatte, daß er Abschied nehmen müsse, hatte seine Stimme so traurig und so verzweifelt geklungen, daß sie in jenem Augenblick erwachsen geworden war.
Sie hatte aufgehört, an sich und ihr Leid zu denken, und hatte nur noch an ihn gedacht.
Sie hatte gewußt, daß die Enttäuschung wieder sein Gesicht beherrschen würde, sobald er nicht mehr mit ihr zusammen war, und auch, daß er in einen Abgrund der Zerstörung eintauchen würde, wie er gesagt hatte.
Sie spürte, daß sie ihm helfen mußte, aber wie sie ihm wirklich helfen konnte, das wußte sie nicht.
Wie hatte sie sich danach gesehnt, ewig in seinen Armen liegen und sich bei ihm geborgen fühlen zu dürfen.
Doch dann hatte sie tapfer die Tränen hinuntergeschluckt.
„Wenn du mich schon allein lassen mußt“, hatte sie gesagt, „darf ich dich dann um ein Geschenk bitten, ehe du gehst?“
„Du weißt, daß ich alles tue, was in meiner Macht steht“, hatte Lord Damien entgegnet.
Gracila hatte ihren ganzen Mut zusammengenommen.
„Ich möchte dich bitten, mir fünf Stunden zu schenken,“
„Fünf Stunden?“ wiederholte Lord Damien erstaunt.
Sie löste sich aus seiner Umarmung, trat einen Schritt zurück und sah ihn an.
„Morgen kommt die Königin nach Newburg“, erklärte sie. „Die Dienstboten werden dich fragen, ob sie den Landauer nehmen dürfen, weil sie nach Newburg fahren und die Königin sehen wollen. Nach der Einweihung eines Krankenhauses wird die Königin an einem Fest teilnehmen, das ihr zu Ehren in Lynmouth House gegeben wird. Die Dienstboten wollen auch dorthin fahren, weil sie hoffen, die Königin noch einmal zu sehen.“
„Sie können fahren, wohin sie wollen“, entgegnete Lord Damien, als sei die Angelegenheit viel zu unwichtig, um besprochen zu werden.
„Das gibt uns die Gelegenheit, ganz allein zu sein“, sagte Gracila. „Wenn wir uns trennen, sollst du nicht unser Unglück in Erinnerung haben, sondern die fröhlichen Stunden, die wir zusammen am Bach unten verbracht haben. Du sollst dich daran erinnern, wie wir gelacht und diskutiert haben und uns gegenseitig unterbrachen. Du sollst dich an die Zeit erinnern, die voll Sonnenschein war.“
„So werde ich dich immer vor mir sehen“, sagte Lord Damien leise. „Sonne im Haar und in den Augen, und dein silberhelles Lachen werde ich hören das schönste Lachen der Welt.“
„Dann schenkst du mir also die fünf Stunden?“ fragte Gracila. „Fünf Stunden, damit ich mich immer daran erinnern kann, daß du nicht nur in meinem Herzen wohnst, sondern auch in meinen Gedanken und meiner Seele.“
Sie sahen sich an, und Gracila lächelte.
„Wir dürfen uns unsere schönen Erinnerungen nicht kaputtmachen“, sagte sie. „Wir dürfen das nicht kaputtmachen, was für mich die schönste Zeit sein wird, die mir das Leben je gegönnt hat.“
„Du sollst deine fünf Stunden haben, mein Liebling“, versprach Lord
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